Eisprinzessin
da Auskunft bekommen.«
»Trotzdem: braves Mädchen«, sagte Meißner.
»Was ist denn bei dir los?«
Der Kameramann war beim Hinausgehen über die letzte Treppenstufe gestolpert und gegen Meißners Bankreihe gerumpelt. Meißner verabschiedete sich schnell von ihm und seiner Kollegin und hätte schwören können, dass die Redakteurin ihm kurz zugezwinkert hatte.
»Du, ich glaub, ich muss jetzt zum Zug«, meldete er sich bei Marlu ab. »Ich ruf wieder an. Und: Super Arbeit!«
Sie gingen zu Kerns Wagen. Er fuhr einen gediegenen Volvo V60 Kombi, dessen Kofferraum wie die Ladefläche eines Handwerker-Pritschenwagens aussah, nur nicht so gut sortiert und aufgeräumt.
»Das vergess ich dir nie, dass du mir mit dem Interview ausgeholfen hast.« Er öffnete die Parkplatzschranke per Fernsteuerung und fuhr auf der Goethestraße Richtung Hauptbahnhof. Eigentlich nur ein Katzensprung. Vom Beethovenplatz konnte Meißner bis hinüber zur Theresienwiese sehen.
»Du wolltest mir doch noch was zu unserer Tiefkühlleiche erzählen«, erinnerte er den Rechtsmediziner.
»Nicht direkt zur Leiche, sondern zu deiner Krusta-Pizza. Mir ist der Name so komisch vorgekommen. Ich hab ihn noch nie gehört, aber bei uns ist grad meine Schwägerin aus Erfurt zu Besuch. Die hat den Namen gleich erkannt und auch gewusst, dass es sich um eine viereckige DDR -Pizza handelt. Allerdings soll es die damals gar nicht tiefgekühlt gegeben haben. Die konnte man nur in sogenannten Krusta-Stuben bestellen und dann abholen. Nix mit Pizzaservice und so. Meine Schwägerin hat gesagt, es soll viele Sorten gegeben haben. Je nachdem, was grad verfügbar war, ist wild herumimprovisiert worden. Mit Sauerkraut, Brühgurken, Hackfleisch und noch mehr Schweinereien, die bei deinem Luigi oder Beppone, bei dem du sonst deine italienische Feinkost kaufst, bestimmt Hausverbot haben.«
»Aber die DDR gibt’s seit zwanzig Jahren nicht mehr. Meinst du etwa, das Zeug liegt da schon so lange rum? Dann hätte der Juniorchef ja vielleicht doch noch einen Kühlhausskandal am Hals.«
»Gammel-Krusta«, sagte Kern. »Zusätzlich zu einer Leiche, die auch nicht so richtig ins Sortiment passt.«
»Du glaubst, auch die Leiche könnte schon seit zwanzig Jahren im Kühlhaus liegen?«
»Nein. Sonst hätte sie eine Karottenhose getragen.«
»Du bist in diesen Modesachen ja voll informiert. Hätt ich dir gar nicht zugetraut.«
»Erinnerst du dich nicht mehr an die Fernsehbilder, als die Ossis nachts zu Fuß und in ihren Trabbis nach Westberlin rüber sind? Die Straßen waren voller Karottenhosen und Schulterpolster.«
Sie waren jetzt schon in der Bayerstraße, in Sichtweite des Hauptbahnhofs. Kern suchte einen Parkplatz, während Meißner bereits ausgestiegen war und nachschaute, wann der nächste Zug Richtung Heimat abfuhr.
Er ließ die Regionalbahn mit Halt in Dachau, Petershausen, Reichertshausen, Paindorf, Pfaffenhofen an der Ilm und Rohrbach ziehen und kaufte stattdessen ein Ticket für den etwas späteren ICE , dessen erster und einziger Halt vor Nürnberg Ingolstadt war. Na bitte, es gab also doch noch ab und zu einen ICE , der auf der Strecke München–Nürnberg nicht nur durch Ingolstadt durchsauste, sondern auch anhielt. Viele waren es nicht, daran hatte selbst Audi bisher nichts ändern können. » ICE Ankunft IN 23 : 35« simste er an Marlu. »Holst du mich ab?«
Kern kam schließlich doch noch mit wehendem Mantel an den Bahnsteig gehetzt und versprach, die Obduktion mit absoluter Priorität gleich morgen früh durchzuführen.
»Ich muss mich eh beeilen«, sagte er, »das ist der Nachteil von aufgetauten Leichen.«
»Wieso?«, wollte Meißner wissen.
»Durch das Frieren bilden sich überall im Körper Eiskristalle. Sie durchstoßen die Zellwände und zerstören sie damit.«
»Und was heißt das?«
»Der Verwesungsprozess, der durch die Kälte so lange aufgehalten wurde, schreitet jetzt umso schneller voran. Das magst du nicht mitanschaun, glaub’s mir.«
Meißner stieg in den eleganten ICE und fühlte sich gleich selbst ein bisschen eleganter, auch wenn er eben noch in der Pathologie gewesen und sich über Verwesungsprozesse unterhalten hatte. Was so ein Verkehrsmittel doch aus einem Menschen machte. Auch im Flieger fühlte er sich meistens ein Quäntchen wichtiger. Ein bisschen mehr Weltbürger als in der Regionalbahn, auch wenn die zweistöckig war und hellgrüne und lila Sitzpolster hatte.
Der ICE rauschte durch München, das dem Gefühl nach erst
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