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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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hinter Dachau aufhörte, wo schwarze Wälder und sanfte Hügel endlich die Stadt ablösten. Er glitt durch Bahnhöfe, deren Namen er im Vorbeifahren mehr erahnen als lesen konnte. Hebertshausen, Röhrmoos, Vierkirchen. Petershausen, ein flaschengrünes Bahnhofsgebäude und eine Lärmschutzwand. Die Fahrt war eigentlich zu kurz, um über alles nachzudenken, was er heute erlebt hatte, und die einzelnen Puzzleteile noch einmal zusammenzusammeln und nach Möglichkeit passend aneinanderzufügen. Er rekonstruierte den Ausflug in die Landeshauptstadt vom Klicken der Handschellen und der Abfahrt in Neuburg bis zu Kerns Aussage, dass die Leiche nicht Charlotte Helmer sein konnte, Marlus Informationen am Telefon im Audimax und den Erkenntnissen des Rechtsmediziners über die Krusta-Pizza. Wenn die Tote nicht Charlotte war, dann war es doch gut möglich, dass sie noch am Leben war. Von den Personen, die vermisst wurden, gab es nicht wenige, die vor ihren Schulden davonliefen und irgendwo anders versuchten, noch einmal von vorn anzufangen. Mit Geld war es auf jeden Fall leichter, abzuhauen und einen Neuanfang zu wagen, und Charlotte Helmer besaß Geld. Meißner wollte einfach glauben, dass sie jetzt auf der richtigen Spur waren und Charlotte davongekommen war. Eine junge Frau, die das Leben noch vor sich hatte.
    Reichertshausen, Pfaffenhofen an der Ilm. Ein orangefarbenes Bahnhofsgebäude und eine leicht schief hängende Lili-Marleen-Uhr. Die Menschen auf dem halbdunklen Bahnsteig flogen vorbei, dann sah er wieder nur sich selbst im Fensterspiegel, die Gesichtszüge weich, alle Schatten getilgt. Die Fahrt verging so schnell. Eine halbe Stunde länger, dann könnte er in Nürnberg aussteigen, aber da wollte er ja gar nicht hin. Die SZ , die er sich in München vor der Abfahrt gekauft hatte, lag zusammengerollt auf dem Sitzplatz gegenüber. Ungelesen. Die Nacht war schwarz, und die leeren Bahnhöfe, die vorbeihuschten, machten ihn ein bisschen melancholisch. Wohin mit den Gedanken und Stimmungen, die ihn auf dieser Fahrt begleiteten? Wohin fielen sie, wenn er ankam? Wenn dieser Hightech-Zug sich herabließ und wirklich in seiner Heimatstadt hielt.
    Tatsächlich erwartete ihn seine ganz persönliche Lili Marleen am Hauptbahnhof in Ingolstadt. Nur hieß sie in Wahrheit Marlu und bestand darauf, dass er noch zu ihr in die Sebastianstraße kam.
    Die Wohnung war angenehm warm. Sogar ein kleiner Rest Spaghetti mit Basilikumpesto und Parmesan war noch für ihn übrig, und auch eine frische Packung Espresso hatte Marlu wie zufällig im Haus. Sie brühte ihn in dem guten alten Alu-Espressokännchen auf, für das es anscheinend in ganz Ingolstadt keinen neuen Dichtungsring gab, und noch bevor der Espresso ganz durchgelaufen war, spuckte die Kanne mindestens die Hälfte der braunen Brühe über das Cerankochfeld und die geflieste Wand.
    Meißner wartete, bis sich das Maschinchen wieder beruhigt hatte, dann wischte er die Fliesen und den Herd sauber. Marlu war damit beschäftigt, eine romantische Stimmung zu zaubern. Sie zündete die dicken weißen Stumpenkerzen an, die über die Fensterbretter, Ablagen, Tische und Tischchen verteilt waren. Sogar im Bad standen welche, und auch der Flur war wie ein Rollfeld ausgeleuchtet.
    »Jetzt rate mal, wem die Firma neben dem Junior noch gehört. Das wollte ich dir vorhin am Telefon schon sagen, aber du warst grad in der Pathologie so beschäftigt.«
    »Ich muss gar nicht raten. Das habe ich gestern schon im elektronischen Bundesanzeiger nachgelesen, während ihr das Kühlhaus aus- und wieder eingeräumt habt: Eva Maria Helmer.«
    Die Kerzen flackerten aufgeregt, das Licht war sanft wie Honig und Marlu enttäuscht. »Dann hast du auch schon das Melderegister durchforstet?«
    Meißner nickte.
    »Sehr gut, Herr Hauptkommissar. Und bei der Krankenkasse hast du auch angerufen?« Sie grinste jetzt, während sie zwei Löffel Zucker in den kleinen Espresso schüttete und rührte und rührte, als wäre das ein lustiges Spiel. Meißner wusste schon, wer am Ende die kalte Zuckerbrühe austrinken würde. »Hast du nicht, stimmt’s?«
    »Stimmt. Da bist du mir einen Schritt voraus.«
    »Die Krankenkassenbeiträge für Frau Helmer werden pünktlich jeden Monat vom Arbeitgeber, der Donau-Kühlung GmbH, überwiesen. Zuletzt Anfang Dezember.« Marlu machte eine Pause, zog ihren Haargummi ab, schüttelte das feine dunkelblonde Haar, bis es wie ein Schleier ihr halbes Gesicht verhüllte, warf dann den Kopf zurück und

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