Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
dreht den Wasserhahn auf kalt und stellt ihn an. Eiskaltes Wasser ergießt sich auf Franziskas Bein, die prompt aufheult.
»Mist«, brüllt die Mutter.
Zoe schnappt sich das Handtuch, lässt das Wasser ablaufen. Das wird nichts mehr. Gemeinsam heben sie das wimmernde Kind aus der Wanne und Zoe fängt an, Franziska so behutsam wie möglich abzutrocknen.
»Hol doch schon mal ihren Schlafanzug«, schlägt sie ihrer Mutter vor. An der Art, wie ihre Mutter gepresst einatmet, spürt Zoe, dass Sonja Kessler ganz dringend einen kurzen Moment für sich braucht. Als die Mutter wieder ins Bad kommt, stinkt sie nach Nikotin. Eigentlich hat Sonja Kessler vor vielen Jahren aufgehört zu rauchen. Doch manchmal, in sehr seltenen Momenten, gönnt sie sich eine Zigarette. Zoe hat versucht, Franzi mit einer Massage zu beruhigen. Das mag sie eigentlich, wird dann ruhiger und entspannt sich. Heute Abend nicht. Die tierischen Laute, die aus Franzis Kehle kommen, gehen Zoe direkt unter die Haut. Wie ein dünner Luftzug entfachen sie die Glut in Zoe. Die spürt, wie das Feuer in ihr wieder aufflammt. Ihr wird heiß von innen, sie spürt die zerstörerische Kraft. Es ist das schlechte Gewissen, das in ihr tobt. Das sie auffressen will. Sie spürt einmal mehr, dass die Wut auf sich selbst und die endlose Scham nie aufhören werden. Noch nicht mal abnehmen werden. Und alles nur, weil Zoe in einer Nacht vor sieben Jahren ihre Mama nicht loslassen wollte. Zoe hatte geweint, bitterlich geweint und gefleht. Sie hatte Angst. Da lag ihre Mutter und schrie und stöhnte. Zoe erkannte sie nicht mehr, war entsetzt über die Laute, die aus der Kehle der Mutter kamen. Sie wurde panisch. Sie hatte gezittert, erst still geweint. Hatte sogar versucht, zum lieben Gott zu beten. Bitte, bitte, lass Mama nichts geschehen. Dann werde ich immer brav sein.
Ihr Vater hatte die Oma schon angerufen. Eigentlich war der Plan, dass die Großmutter zu Zoe kommen sollte, damit die Eltern ins Krankenhaus fahren konnten. Die Heftigkeit der Wehen warf den schönen Plan über den Haufen. Stefan und Sonja Kessler glaubten, nicht genug Zeit zu haben, um auf die Oma zu warten, die erst noch ein Taxi rufen musste. Stefan Kessler telefonierte mit seiner Mutter, bestellte sie ins Krankenhaus. Sie würden Zoe einfach mit dorthin nehmen und da an die Oma überreichen.
Eigentlich ein guter Plan, allein Zoe spielte nicht mit. Während der Vater telefonierte und sich nebenbei anzog, kniete sie vor dem Bett ihrer Mutter. Sie hatte einen Waschlappen aus dem Bad geholt, versuchte immer wieder deren Gesicht abzuwischen. So hatte sie es mal in einem Film gesehen. Als ihr Vater ins Schlafzimmer kam und seiner Frau sagte, dass er jetzt den Wagen aus der Garage und sie dann holen würde, legte sich ein Schalter in Zoes Kopf um.
Ihre Mutter sollte weggebracht werden?
Weg von ihr?
Zoe hatte Angst, sie nie wiederzusehen. Sie lief raus, ins Bad, und schloss ab. Zwei Mal. Genau in das Bad, in dem sie jetzt ihre kleine Schwester versuchte zu liebkosen.
Sie kann sich noch genau an ihre Gefühle damals erinnern. Es war nackte Panik. Ihr Vater und ihre Mutter wollten sie hier alleinlassen? Sie wollten einfach fahren? Warum schrie ihre Mutter so? Zoe saß zitternd auf den kalten Fliesen. Sie weiß noch wie heute, dass sie mit dem Zeigefinger immer wieder den Fugen der Bodenfliesen gefolgt ist. Immer und immer wieder. Sie hat ihren Vater vor der Tür brüllen hören. Hat seine Verzweiflung wahrgenommen, seine Ungeduld, seine Machtlosigkeit. Sie wollte nicht aufmachen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter wegfuhr. Sie wusste, Mama würde nicht gehen solange ihre Tochter eingeschlossen im Bad saß. Das würde Mami doch niemals machen. Sie wollte nicht alleine hierbleiben. Wollten ihre Eltern sie wegen dieses Babys hier zurücklassen? Was machte dieses Wesen in ihrer Mutter? Sie hörte sie wieder schreien. Stellte sich vor, wie das ungeborene Kind ihre Mama von innen zerriss. Ihr Vater wurde noch lauter, rüttelte immer wieder an der Tür. Er hatte viel gesagt damals, aber er hatte versäumt Zoe zu sagen, dass sie mitkommen sollte ins Krankenhaus, wo Oma auf sie warten würde. »Wir müssen fahren« hatte er immer wieder gebrüllt. Zoe wusste nicht, dass sie auch zu diesem Wir gehörte. Irgendwann stand sie auf und drehte den Wasserhahn an der Badewanne auf. So hörte sie ihren Vater nicht mehr so laut.
Wie oft hat sie diese Situation schon erlebt?
Wie oft hat sie sich gefragt: warum?
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