Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
ungute Mischung aus gedünsteten Zwiebeln, Rauch, verbrauchtem Atem. Manchmal kommt noch beißender Uringestank dazu. Wenn eines der Kids es wieder nicht rechtzeitig bis in die Wohnung geschafft hat. In der Wohnung zieht er die Jacke gar nicht aus. Er geht nur kurz in die Küche, holt sich eine kalte Cola aus dem Kühlschrank und verschwindet wieder. Weiter nach oben. Natürlich ist es streng verboten, aufs Dach zu steigen. Die Tür aufs Flachdach ist nur ein Notausgang und war wohl auch mal elektronisch gesichert. Das ist ewig her. Carl macht es sich dort oben bequem und lässt den Blick schweifen. Dabei versucht er das Elend direkt unter ihm zu übersehen. Den Müll, die Grünfläche, die ihren Namen nicht verdient, die Gestalten, die dazwischen abhängen. Die alten Autos, den Dreck. Er guckt lieber in die Ferne. Zum Fluss, zum Bonzenhügel mit den höchsten Mietpreisen der Stadt und mit vielen hohen Zäunen. Irgendwann will er da wohnen. Er will nicht mehr durch ein stinkendes Treppenhaus steigen, um zwischen Zigarettenkippen sitzend auf die Stadt blicken zu können. Er will von seiner Terrasse auf die da unten gucken können. Er will Wurst an der Frischetheke kaufen und nicht abgepackt in Plastik. Er will Joghurts, die noch länger als einen weiteren Tag haltbar sind. Er will Brot essen, das am selben Tag gebacken wurde. Und er will echte Coke. Nicht dieses gepantschte Imitat. Und genau deswegen holt er jetzt die Bücher aus der Tasche. Konzentriert macht er sich an die Hausaufgaben. Ihm fliegt das Wissen nicht zu. Er muss es sich erarbeiten. Und das tut er, weil er dieses Ziel hat. Die meisten Kumpels aus dem Block begnügen sich mit Hilfsjobs, stocken auf und drehen ein paar krumme Dinger für den Extra-Bonus. Sie liefern auf Bestellung Navigationssysteme, schmuggeln Zigaretten im kleinen Stil, schleppen am Wochenende auf kleinen Baustellen Steine und prahlen, wenn sie im Treppchen eine Runde mit einem Hunderter bezahlen können. Carl widert das an. Er sieht sie alle vor sich – in zwanzig Jahren. Wie sie dann immer noch hier sitzen werden. Die Bäuche werden dicker und schwabbeliger, die Zähne schlechter sein. Sie werden vom permanenten Alkoholmissbrauch geplatzte Adern überall im Gesicht haben und einen unangenehmen Körpergeruch. Die Frauen zeigen ihre dicke Beine mit blauen Krampfadern, die sie noch nicht mal unter Hosen verstecken. Sie werden keifen und meckern, vom All-inclusive-Urlaub auf Mallorca träumen und sich Modeschmuck und reizlose Unterwäsche bei Ernstings kaufen.
Carl nimmt sich die letzten Seiten vom Kapitel Die Weimarer Republik vor. Er grinst bei der Erinnerung an das Gespräch mit Zoe. Sie könnte er sich vorstellen in dem Haus am Hügel. In seinem Haus am Hügel. Sie sieht gut aus. Nicht zu gut. Das sollte ein Mädchen auch nicht. Sonst ist schon vorprogrammiert, dass das nicht lange halten wird. Doch Zoes Figur, die langen Haare sind Carl nicht so wichtig. Zoe ist tough, sie ist hart und sie hat keine Angst. Carl hat vom ersten Moment an gespürt, dass ihm dieses Mädchen sehr ähnlich ist. Viel ähnlicher als ihr wahrscheinlich lieb ist. Er wird es ihr schonend beibringen müssen. Er will sie nicht verschrecken.
Erst als es dunkel wird, steigt er herab. In seinem Zimmer taucht er mit Kopfhörer vor dem Laptop in seine Welt ein. Er versucht so wenig wie möglich von seiner Realität zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken.
Nur eine kurze Nacht
Z oe beißt die Zähne aufeinander. Franziska krallt sich mit ihren Fingernägeln in ihren Arm. Zoe versucht sich nichts anmerken zu lassen. Eigentlich war die Sache mit dem Baden besser geworden. In letzter Zeit hatte es Franzi sogar genossen, in dem warmen Wasser zu liegen, hatte mit ihren steifen Fingern versucht, nach den kleinen Quietscheenten zu greifen. Manchmal hatte sie es sogar zugelassen, dass Zoe ihr anschließend die Haare kämmte und sie eincremte. Doch seit die Osteopathin mit ihren neuen Übungen angefangen hatte, war die Siebenjährige fast hysterisch, wenn es ins Badezimmer ging. So auch heute. Sie verkrampft sich, wirft ihren Kopf nach hinten, versucht sich mit all ihrer Kraft zu wehren. Und sie hat viel Kraft. Sonja Kessler stöhnt auf, ihr Rücken schmerzt. Zoe versucht Franziska zu stabilisieren.
»Meinst du nicht, dass das Wasser etwas sehr heiß ist?«, fragt sie vorsichtig. »Vielleicht ist das ja der Grund, warum Franzi so bockig ist.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Aber wenn du meinst.«
Sonja Kessler
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