Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
bisschen überrascht. Genau das, was Carl gerade gesagt hat, ging ihr auch gerade durch den Kopf.
»Geht es nicht darum, was wir als Realität ansehen?«, räumt Bach ein. »Für die Menschen in der Höhle sind die Schatten die Realität. Die können sich vielleicht nicht vorstellen, dass es noch was anderes gibt.«
»Vielleicht haben sie ja auch Angst, wenn sie plötzlich frei sind. Das ist ihnen doch völlig fremd. Die ganzen Geräusche, Gerüche und so. Das muss doch völlig ungewohnt sein«, mischt Kim sich ein. »Vielleicht wollen die lieber wieder das Vertraute. Wieder die Schatten an der Wand.«
Fast angewidert schaut Zoe sie von der Seite an. Was mischt die sich denn jetzt ein? Am liebsten würde Zoe ihr jetzt an den Kopf werfen, dass sie genau der Typ ist, der lieber in der Höhle hockt, als das Leben zu erkunden.
Aber Carl kommt ihr zuvor. »Und Fremdes macht Angst? Wenn man das denkt, wohnt die Angst schon in einem«, sagt Carl mit direktem Blick auf Kim. »Ich glaube übrigens, dass Platons Gleichnis für eine unmündige Masse gilt. Für Menschen, die sich gerne das Denken abnehmen lassen. Die gefesselt werden müssen, damit sie sich selber überhaupt spüren. Denkende Menschen würden sicher nicht so handeln wie Platon meint. Die Menschen haben doch nicht den aufrechten Gang gelernt, um sich freiwillig fesseln und knebeln zu lassen«, behauptet Carl.
»Das denke ich auch. Was Platon da beschreibt, sind keine Menschen. Er beschreibt Tiere. Die lieber in der Sicherheit bleiben, auch wenn diese ungemütlich ist«, pflichtet Zoe ihm bei. Sie denkt an Johnny. Er hatte sich schnell seinem Schicksal gefügt. Er war ihr auch nach der kleinen Entführung nicht an die Kehle gegangen. Zoe fragt sich, ob er wieder in das Gartenhaus gehen würde. Würde er sich noch mal einsperren lassen?
»Platon wollte mit seinem Gleichnis auch die Frage stellen, was wir als Wahrheit anerkennen. Ob wir an was glauben können, das wir nicht kennen. Wie groß unsere Vorstellungskraft ist«, regt der Lehrer die Diskussion wieder an.
»Immerhin gibt es genug Menschen, die an kleine grüne Männchen glauben. Die haben genug Fantasie für solche Vorstellungen«, mischt sich Nils ein.
»Die haben meist nicht genug Fantasie, sondern genug Alk intus«, lacht ein Mädchen, das die Stunde bislang dafür genutzt hat, sich den Lack von den Nägeln zu knibbeln.
»Ich denke, wir werden an dieser Stelle in der nächsten Stunde weitermachen«, sagt der Bach in den Schulgong.
Zoe verdreht die Augen. Tolle Aussichten. Sie möchte nicht über die Gefangenschaft von Gedanken, über Angst, über Entscheidungen nachdenken.
Sie trödelt bewusst, während sie ihre Sachen zusammenpackt. Sie hat irgendwie gerade keine Lust auf Kim und Saskia. Der Orkan in ihr muss sich erstmal wieder legen. Zumindest auf Sturm-Niveau. Sie schlendert auf den Pausenhof, bleibt auf der Brücke stehen. Von da hat man einen guten Blick auf die drei unterschiedlichen Höfe, auf denen die Schüler sich austoben dürfen. Sie sieht die Jungs aus den unteren Klassen kicken und ringen. Die passenden Mädchen dazu kichernd danebenstehen. Sie sieht ein paar Pärchen, die Hand in Hand ziellos schlendern. Sie sieht Saskia und Kim wie zwei Sonnenanbeterinnen auf einer Bank sitzen. Die, die rauchen wollen, stürmen die Außentoiletten, die nie kontrolliert werden. Sie stellt sich vor, wie es sich wohl ohne ihre Fesseln anfühlen würde. Wenn sie frei wäre. Wenn sie nicht mehr den Fluch auf sich spüren würde. Sie würde laut singend in die Freiheit laufen. Niemals zurückgehen.
»Vielleicht mögen die meisten Menschen wirklich den Sumpf der Gewohnheit. Auch wenn der noch so stinkt.«
Zoe erschrickt noch nicht mal, als sie Carls Stimme hinter sich hört. Sie dreht sich um und er steht ein bisschen zu nah vor ihr. Nicht sehr nah. Aber so, dass sie sehen kann, dass eine Ecke von seinem Schneidezahn abgebrochen ist. Und dass seine Augen gesprenkelt sind.
»Wahrscheinlich war Platon ein Neurotiker«, murmelt Zoe. Sie würde gerne ein paar Zentimeter zurückweichen. Aber da ist die Beton-Balustrade.
»Eigentlich ist es eh Unsinn, zu versuchen, die Menschen zu ergründen. Es gibt Leute, die wirken wie der strahlendste Sonnenschein und haben ganz dunkle Schattenseiten«, sagt Carl, während er an Zoe vorbei auf den Schulhof guckt. Zoe spürt, dass er sie meint. Sie dreht sich um, fühlt Carl in ihrem Rücken.
»Alles hat zwei Seiten«, sagt sie nur.
»Ja. Und alles hat mal ein
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