Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
keine Erklärung, keine, die reichen würde. Eine Entschuldigung für sich findet sie natürlich auch nicht.
Gefangen
Z oe hatte sehr gehofft, dass ein neues Thema anstünde. Tut es aber nicht. Es geht wieder um dieses bescheuerte Höhlengleichnis. Sie wird richtig wütend, wenn sie diese Geschichte aus der Antike hört. Da gibt es ein paar Leute, die von Kindheit an gefesselt in einer Höhle sitzen. Sie können noch nicht mal den Kopf drehen. Hinter ihnen ist ein Feuer und eine Wand. Hinter dieser wohl kleinen Mauer werden dauernd Dinge vorbeigetragen, die den Gefangenen auf der Wand, die sie seit Ewigkeiten betrachten, als Schatten erscheinen. Sie können nicht nach rechts und links gucken. Sich nicht umdrehen. Sie können nur auf die Wand starren. Jetzt geht es darum, was wohl passiert, wenn einer der Gefangenen befreit wird und sich umdrehen darf. Und was wohl passiert, wenn der sogar die Höhle verlassen darf.
Zoe guckt aus dem Fenster. Sie versucht angestrengt, an etwas anderes zu denken. Eigentlich mag sie Philosophie, findet die Diskussionen um Werte, um das Sein an sich, um Wahrheit spannend. Dieses Gleichnis macht sie zornig. Was soll das? Sie versucht sich vorzustellen, sie säße da gefesselt in einer dunklen Höhle mit obskuren Schatten, die vor ihr über eine Wand flimmern. Sie würde wahnsinnig.
»Das Gleichnis sagt auch, dass keiner freiwillig aus dieser Höhle hinausgeht. Die, die man mit Gewalt ans Sonnenlicht bringt, würden endlich die Wahrheit erkennen. Doch in der Höhle zurück würde ihnen niemand glauben«, hört sie den Lehrer wie aus weiter Entfernung.
Sie fängt an mit dem Stuhl zu kippeln, kann einfach nicht ruhig sitzen bleiben.
»Zoe, war diese Regung eine Meinungsäußerung?«, fragt der Bach.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortet sie ruhig, ohne ihn anzusehen.
»Aber vielleicht hast du ja doch eine Meinung dazu.«
»Die habe ich.«
»Möchtest du uns die mitteilen?«
»Eher nicht. Ich glaube nicht, dass Sie die hören möchten«, versucht Zoe auszuweichen. Sie ahnt schon, dass es auf einen Konflikt hinausläuft. Sie scheut den nicht, aber suchen tut sie ihn auch nicht. Und sie spürt, wie etwas in ihr brodelt.
»Ich glaube schon, dass ich deine Meinung dazu hören möchte. Ich bin immer erfreut über andere Sichtweisen.«
Das sagen Lehrer gerne, denkt Carl. Sie fordern kritisches Hinterfragen, eigene Überlegungen, nicht konforme Gedanken. Außer sie werden selber kritisch hinterfragt. Er sitzt weit von Zoe entfernt, aber er kann ihre Erregung fühlen. Als würde ein stummes Vibrieren von ihr ausgehen. Sie ist nicht so gelangweilt wie sie tut. Eher im Gegenteil.
»Ich wäre echt böse, wenn mich jemand in einer Höhle fesselt«, fängt Zoe an. Sie versucht ihre Gedanken zu ordnen. Weil die gerade wie von einem kleinen Tsunami weggeschwemmt werden. Alles in ihrem Kopf wird durcheinandergewirbelt. Diese Geschichte beunruhigt sie zutiefst. Es berührt etwas in ihr, das sie noch nicht kennt. Sie holt tief Luft, versucht an die Oberfläche ihrer Gedanken zu tauchen. Endlich ist da wieder Luft. »Wenn mich dann endlich jemand losbindet und ich frei bin, würde ich rausrennen und niemals zurückgehen. Niemals.«
Ihre Stimme zittert, während sie das sagt. Auch die, die während der letzten Viertelstunde vor sich hingedöst und heimlich SMS geschrieben haben, horchen auf. Zoe verunsichert? Zoe mit wackeliger Stimme? Das ist neu.
Es ist Carl, der sie erlöst. Als er sich meldet, löst sich der Blick des Lehrers nur zögernd von der aufgebrachten Schülerin.
»Niemand hat das Recht, jemand anderen so zu behandeln. Ihn zu fesseln und gefangen zu halten. Damit sollte man wohl mal anfangen«, beginnt er. Ganz ruhig geht sein Blick von Zoe zum Lehrer. Er spürt ihre Dankbarkeit darüber, dass er sie aus der Schusslinie geholt hat, obwohl sie nach unten sieht.
»Was sollen Gedankenspiele, in denen Menschen gefesselt und unbeweglich in einer dunklen Höhle sitzen? Und nachdem diese Menschen gewaltsam an die Realität gewöhnt wurden, werden sie geächtet. Was will Platon uns damit sagen? Bleib schön unwissend, dann wirst du auch gemocht? Und ich glaube, auch ein Platon kann sich nicht in so eine Situation einfühlen, wie das ist, gefesselt und bewegungslos dasitzen zu müssen. Ich glaube, der hat da nur seine sadistischen Gedanken ausgelebt und das als Philosophie verkauft«, behauptet er dreist.
Zoe kann nicht anders.
Sie guckt ihn jetzt dankbar an.
Dankbar und auch ein
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