Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
Vater.
»Hast du jetzt hier hingepinkelt?«
Zoe sah wie ein bisschen Flüssigkeit unter der Tür herkam. Die arme Mama. Jetzt hatte sie noch nicht mal aufs Klo gehen können.
»Das ist das Fruchtwasser, Stefan«, hatte ihre Mutter geschrieen.
Zoe hatte eine Gänsehaut gekriegt. Dieses leicht grünliche Wasser da war Fruchtwasser? Sie hatte Angst gehabt, die Tür zu öffnen. Da war bestimmt noch viel mehr von diesem Wasser. Sie hatte Angst vor der Wut ihres Vaters. Und sie wollte verdammt noch mal einfach nicht, dass Mama und Papa wegfahren. Und dann war wohl diese Ader zwischen Mama und Franziska einfach kaputtgegangen. Sie hat sich schon oft vorgestellt, wie Franzi da in ihrer Mutter lag und die Verbindung zertrennt war. Ob sie wohl das Gefühl hatte, ersticken oder verhungern zu müssen? Sie hat sich früher oft gefragt, ob Franzi wohl Schmerzen gehabt hat. Mittlerweile hat sie genug darüber gelesen und weiß, dass das wohl nicht so war. An der Größe ihrer Schuld, an der Schwere ändert das gar nichts.
Das Sommerfest findet wie immer auf dem großen Abenteuerspielplatz statt. Es wird gegrillt und die Geschwisterkinder ohne Handicap können sich an den Geräten oder im Streichelzoo vergnügen. Zoe kennt ein paar von ihnen. Aber eigentlich bleibt sie distanziert. Die anderen können sich suhlen in dem Gedanken, dass sie ja Gott sei Dank gesund sind und so dankbar dafür sein. Sie können sich stark fühlen, weil sie mit der Last eines behinderten Bruders oder einer behinderten Schwester leben können. Zoe lebt mit der Last, für die Behinderung ihrer Schwester verantwortlich zu sein.
Das ist etwas ganz anderes. Und deswegen gehört sie nicht wirklich dazu. Sie macht sich lieber nützlich. Sammelt schmutziges Geschirr ein, hilft am Getränkestand und schiebt Franzi ein bisschen rum. Sie meint ein Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester zu sehen, als sie bei den kleinen Ziegen am Streichelzoo stehen bleiben. Vielleicht hat sie aber auch nur gerade an etwas Schönes gedacht. Es hilft Zoe nicht, dass Franzi oft glücklich und fast fröhlich ist. Sie füttert sie und wickelt sie in einem Zelt, das der Verein eigens dafür aufgestellt hat. Und plötzlich merkt Zoe, dass ihr alles zu viel wird. Sie hat keine Lust, mit den anderen nicht-behinderten Kindern und Jugendlichen einen Hindernis- und Geschicklichkeitsparcours zu absolvieren, sie hat keine Lust, sich um die Kids in den überdimensionalen Rollstühlen zu kümmern und sie hat überhaupt keine Lust, sich zu den Eltern zu gesellen, wo es wieder einmal um die besten Therapien und Fördermöglichkeiten geht. Wieder entbrennt eine Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Delfin-Therapien, die nun auch in Deutschland und der Schweiz angeboten werden. Zoe kennt die Argumente schon in- und auswendig.
»Mama, ich müsste eigentlich noch was für die Schule machen. Ich wollte das eigentlich morgen Nachmittag tun, aber mir ist jetzt erst eingefallen, dass wir uns da ja schon wieder für diesen Schultanz treffen. Hast du was dagegen, wenn ich schon nach Hause fahre?«
Sonja Kessler guckt ihre Tochter prüfend an. »Hast du eigentlich was gegessen?«
»Klar. Ich habe sogar eines von den Würstchen abbekommen, die Papa nicht ganz hat verkohlen lassen«, lügt sie.
»Weißt du denn, wann ein Bus geht? Sonntags fahren die hier nicht so oft.«
Zoe hält ihr Smartphone hoch. »Habe ich gecheckt. In zehn Minuten.«
»Alles klar. Finde ich zwar schade, aber wir sehen uns dann nachher zu Hause.«
Zoe drückt ihrem Vater und Franziska noch einen schnellen Kuss auf die Wangen und wendet sich ab. In ihr ist wieder dieses hohe Pfeifen, das unbändige Verlangen etwas zu tun. Sich abzulenken. Am Anfang hat es gereicht, etwas Blödes zu tun. Dann mussten ihre Aktionen gemeiner werden, damit das Vibrieren in ihr nachließ. Auch diese Phase ist vorbei. So wie Süchtige immer mehr brauchen, die Dosis immer steigern müssen, wagt Zoe sich Schritt für Schritt auf eine unbekannte Grenze zu. Sie muss es tun.
Zu Hause geht sie direkt in ihr Zimmer und sucht. Konzentriert wühlt sie in ihrer Schmuckschatulle. Irgendwo müssen noch diese kitschigen Ohrstecker sein, die sie sich letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hat. Ungefähr drei Stunden lang fand sie die Blume mit funkelnden roten und grünen Steinen gut. Dann nur noch grässlich. Genau dieses blinkende Monster sucht sie jetzt. Eigentlich hatte sie die Ohrringe längst wegwerfen wollen. Nun ist sie froh, dass sie es nicht
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