Eistochter
beiden sich in der Schule scheinbar grundlos an die Gurgel gegangen sind … Und wie es einfach angefangen hat, ganz plötzlich, an dem Tag, als Kyra gerade von der Bindung ihres Bruders zurückgekehrt war. Jetzt ergibt alles einen Sinn. Sie wussten beide, wer der jeweils andere war.
Wieder hat niemand auch nur daran gedacht, mich einzuweihen. Nicht einmal Beck, der nach allem, was er mir gerade erzählt hat, ganz allein war. Allein gegen viele.
Ich warte darauf, dass er lacht und eingesteht, dass alles nur ein großer Witz ist. Dass er sich gelangweilt und deshalb beschlossen hat, für eine Weile die Schule zu schwänzen. Irgendetwas. Alles wäre besser als die Worte, die aus seinem Mund kommen.
Aber er lacht nicht.
Die Weintrauben auf meinem Teller sind den Zinken meiner Gabel nicht gewachsen. Ich spieße eine auf, Metall schrappt über den Steinteller, und Beck zuckt zusammen. Aber seltsamerweise fühle ich mich abgesehen von meinem Bedürfnis, Obst aufzuspießen, entspannt. Sogar glücklich.
Es ist eigenartig, so als ob das, was ich empfinden möchte, unmittelbar unter meiner Hautoberfläche verborgen wäre, ohne dass ich darauf zugreifen kann. Ich stelle mir ein blinkendes Schild über meinem Kopf vor: Wut: verwehrt.
»Warum fühle ich mich so glücklich und ruhig?«
Seine Augen leuchten auf. »Du meinst, außer meinetwegen?«
Ich versetze ihm einen Rippenstoß, und er wankt und tut so, als wäre er verletzt.
»Nun ja, Miss Greene, Sie sind als Dunkelhexe von beinahe tausend Lichthexen umgeben.« Er starrt wieder die Küchentür an, und mir wird bewusst, dass die Hexen, von denen er spricht, wahrscheinlich irgendwo da draußen sind. »Außerdem bist du noch nicht erwachsen. Du bist zwar stark, aber nicht stark genug, um uns alle zu besiegen. Und …« Er setzt sich auf und imitiert einen Staatsmann. »Wenn wir wollen, dass du glücklich und ruhig bist, dann bist du das auch.«
Ich soll stärker werden? Was soll das heißen? Ich verkneife mir die Fragen, weil ich mich vor der Antwort fürchte. »Warum habe ich bisher noch nicht so die Fassung verloren?«
»Die beste Erklärung ist vermutlich, dass ich dich irgendwie blockiere. Deine dunklen Kräfte überdecke.« Er schließt die Augen.
»Aber wie? Sollten wir nicht gleich stark sein? Wir sind genau im selben Alter und …«
»Das sollten wir, aber aus irgendeinem Grund bin ich im Augenblick stärker als du. Ich bin der mächtigste Lichthexer oder werde es einmal sein. Und du, mein liebes Vögelchen, wirst dereinst die mächtigste Dunkelhexe sein.«
Seine olivgrünen Augen blicken forschend in meine, suchen meine Seele ab, legen frei, was an Dunkelheit in mir lauert. Entblößen mich.
Ich bin mir noch nie so nackt vorgekommen. Oder so böse.
Mein Verstand verarbeitet Becks Worte, aber ich kann nur an seine Lippen, seine Augen, seine starken Hände denken. An ihn.
»Weißt du warum?«, fragt Beck, als es gerade so aussieht, als ob keiner von uns je wieder sprechen würde – als ob wir in dem sonderbaren luftleeren Raum zwischen uns ersticken würden.
Ich entwirre meine verräterische Zunge. »Ich weiß gar nichts.«
»Weil du die direkte Nachfahrin von Caitlyn Greene bist, und ich der direkte Nachfahre von Charles Channing. Die Macht unserer Familien wächst mit jeder Generation.« Beck neigt den Kopf zur Seite, wie ich es ihn bei Callum und Annalise im Schulleiterbüro habe tun sehen.
»Warum tust du das?«, frage ich, als er mir mit den Fingern über den Handrücken streicht. Mein Herzschlag verlangsamt sich, und ich konzentriere mich auf sein Gesicht.
Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Den Kopf zur Seite neigen«, präzisiere ich.
»Hmm. Ich wusste nicht, dass ich das tue.« Seine Haare wippen, als er den Kopf hin und her wiegt. »Ich vermute, es hilft mir, das ›Geräusch‹ wahrzunehmen, das von dir ausgeht. Ich spüre, was du fühlst.« Er betrachtet den Tisch.
Die Erkenntnis durchzuckt mich. »Oh.« Hitze lodert auf meinem Gesicht. »Wie lange kannst du schon …?« Ich kann meinen Gedanken nicht zu Ende bringen.
»Seit ich zehn war«, murmelt er und scharrt mit dem Fuß über den Boden.
»Zehn! Du kannst schon seit sieben Jahren ›hören‹, was ich fühle?« All die Male, die mein Herz gerast hat, wenn er mich angelächelt oder meine Hand genommen oder mich zum Lachen gebracht hat … Oder, schlimmer noch, wenn ich nur allein sein wollte – weit weg von ihm. Aber ein anderes Thema brennt mir noch weit mehr auf den Nägeln.
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