Eistochter
»Du wusstest um deine Fähigkeiten und hast nie auch nur daran gedacht, mir davon zu erzählen?«
»Sei nicht böse, Lark. Ich konnte es nicht.«
Ich entziehe ihm ruckartig meine Hand. »Konntest es nicht oder wolltest es nicht?«
Beck schweigt. Er war noch nie gut darin, seine Gefühle zu verbergen, und ich sehe ihm an, dass er um eine Antwort verlegen ist. »Beides. Ich durfte dir nichts davon erzählen, aber ich habe auch eingesehen, warum es keine gute Idee gewesen wäre, es dir zu sagen.«
Ich schließe die Augen. Die Haut meiner Lippen platzt zwischen meinen Zähnen und blutet. »Du wusstest Bescheid. Die ganze Zeit über wusstest du Bescheid. Und hast mich angelogen.«
Mein Herz zerbricht in tausend Stücke. Die Tränen lassen sich jetzt nicht mehr aufhalten. Er hat mich angelogen – die einzige Person, der ich immer vertraut habe.
Seine Hand liegt auf meinem Arm, zieht mich von meinem Stuhl und nahe an ihn. Ich wehre mich, indem ich gegen seinen Oberkörper drücke. Beck lockert seinen Griff, und ich mache einen Schritt zurück – weg von ihm.
»Glaubst du wirklich, dass du im Alter von zehn Jahren gut damit zurechtgekommen wärst? Du kommst ja jetzt kaum damit zurecht!«
»Ich finde, ich komme ganz ordentlich damit zurecht.« Ich verschränke die Arme und versuche, meine Tränen fortzublinzeln. Ich weiß, dass ich stärker sein muss, als ich es gerade bin, aber mein Herz ist anderer Meinung. Seine Scherben stechen mich.
»Nein, tust du nicht. Du hast das Haus schwer beschädigt, nachdem Bethina dir alles erzählt hatte.« Er zerrt an meinem Arm. Seine andere Hand nähert sich meinem Haar, und seine Finger spielen mit einer losen Strähne. Ich versteife mich, leiste aber keinen Widerstand. »Mach dir nichts vor, Vögelchen. Jeder wäre schockiert, herauszufinden, dass er nicht nur eine Hexe ist, sondern sogar eine mächtige Dunkelhexe.«
Ein kleines Zittern durchläuft meinen Körper. Meine Augen sind von Tränen gesäumt, und ich blinzle schnell, um sie zurückzuhalten. Mit aller Kraft reiße ich mich los. Der Esstischstuhl direkt neben Beck fällt um. Dann der nächste. Stuhl um Stuhl prallt auf den Boden und zerbirst in Stücke. Beck schiebt sich mit winzigen Schritten näher heran, von einer Seite des Tisches auf die andere. Er steigt über die zerstörten Stühle hinweg und versucht mich zu erreichen, aber ich renne in Richtung Küche. Bevor er mich aufhalten kann, reiße ich die Tür nach draußen auf und stürze mich in die drückende Hitze des späten Vormittags.
Hinter mir ruft Beck: »Lark, nicht! Bitte nicht! Es tut mir leid.«
»Bleib mir vom Leib!« Die Scherben meines Herzens klappern in ihrem leeren Behälter herum, und die Luft lastet schwer auf mir, bis meine Lunge sich leert und ich keuche. »Du hast mich angelogen. Indem du es mir verschwiegen hast, hast du mich angelogen.«
Ich stürme die Treppe hinunter, unsicher, wohin ich will. Ich weiß nur, dass ich allein sein muss, weit weg von Beck, damit ich alles verarbeiten kann, was ich erfahren habe.
Als ich auf dem Rasen zwei Schritte weit gekommen bin, reiße ich den Kopf hoch.
Eine Gruppe von Leuten – oder Hexen, was auch immer – steht direkt vor mir und versperrt mir den Weg. Hinter ihnen erstreckt sich ein verschwommenes Meer aus bunten Zelten, so weit das Auge reicht. Reihen um Reihen. Hunderte. Und von überall her beobachten mich Hexen.
Ich sitze zwischen der nicht gerade freundlich dreinblickenden Gruppe vor mir und Beck hinter mir in der Falle. Ich habe kaum eine Wahl, und so entscheide ich mich für das kleinere Übel und wende mich Beck zu.
Er kommt sehr langsam auf mich zu, als hätte er Angst vor mir, mit winzigen, zielstrebigen Schritten. Die Art, wie er die Hände ausstreckt, erinnert mich an jemanden, der sich einem wilden Tier nähert. Er reckt den Arm und streichelt mir mit dem Handrücken die Wange.
Als ich aufblicke, stelle ich erstaunt fest, dass seine Wangen feucht sind.
»Lark, es tut mir leid.«
»Halt sie unter Kontrolle, Beck.« Ich erkenne die grausame Stimme. Eamon. Wie kann er es wagen? Erst schleicht er sich auf der Wiese an mich heran, dann lacht er mich aus, als ich den Boden unter den Füßen verliere, und jetzt? Jetzt sagt er Beck, dass er mich unter Kontrolle halten soll?
Ich mache Anstalten, zu Eamon herumzuwirbeln, aber Beck packt mich und zieht mich an seine Brust. Er schlingt die Arme eng um mich. Ohne nachzudenken, gebe ich seiner Berührung nach. So war das mit uns schon
Weitere Kostenlose Bücher