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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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kaum zehn Minuten mit mir gesprochen … da hat er mich schon gefragt, ob ich für ihn arbeiten möchte. Er hat gar nicht viel von mir wissen wollen. Also ich hab das seltsam gefunden, gerade in einer Zeit, in der man mit Halbfertigem nicht mehr weit kommt.«
    Eschenbach sah Juliet an. Sie war Judith tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Vermutlich war es das, was Theo dazu bewogen hatte, sie ohne viel Federlesens gleich einzustellen. Es musste die Erinnerung an Judith gewesen sein, dachte er. Gerne hätte er Juliet gesagt, dass sie hübsch und deshalb alles andere als halb fertig sei, ließ es aber bleiben.
    Sie schwärmte von ihrem Chef, dem Professor, vom Team und von der anregenden Atmosphäre an der ETH.
    »Und Konrad Schwinn …«, warf Eschenbach ein. »Wie ist der so?« Dem Kommissar war aufgefallen, dass sie nie über ihn gesprochen hatten.
    »Der Koni?« Einen Moment hielt sie inne. »Ehrlich gesagt, ich wüsste nicht, was ich über ihn erzählen könnte …«
    »Arbeitet er nicht mit dem Professor zusammen? Ich meine, Sie müssten sich doch kennen.«
    »Das ist es ja.« Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Ich kenn den überhaupt nicht recht … also was soll ich sagen.« Wieder eine Pause. »Der Koni ist nett … Attraktiv vielleicht.«
    Eschenbach hob die Augenbrauen.
    »Wahrscheinlich ist nett das falsche Wort … zurückhaltend nett trifft es wohl besser.«
    »Ach ja?« Der Kommissar sah in ihre warmen Augen. »Und was ist zurückhaltend nett?«
    »Ach wissen Sie …« Es kam ein verlegenes Lachen. »Es gibt Menschen, die teilen die Welt in Studierte und Nicht-Studierte ein: in erste und zweite Klasse eben.«
    »Und der Koni ist so einer?«, wollte Eschenbach wissen.
    »Ja.« Sie senkte ihren Blick. »Für den bin ich nur die Tusse vom Dienst. Eine Sekretärin, die hin und wieder seine Berichte abtippt oder Telefonanrufe ausrichtet.«
    »Ach so«, brummte der Kommissar etwas verlegen. »Für mich sind Sie erste Klasse.«
    Sie sah ihn einen Moment lang schweigend an: mit halb offenem Mund und Sommersprossen unter hellen, fröhlichen Augen.
    Eschenbach, der sich wegen seiner plumpen Anmache am liebsten ins Knie gebissen hätte, war froh, dass der Lärm der übervollen Mensa die kleine Stille zwischen ihnen übertönte. »Wollen wir?«, sagte er.
    Sie standen auf.
    Nachdem sie sich verabschiedet hatten und Juliet in Richtung Treppe gegangen war, mit federndem Schritt, sich noch einmal umgedreht und Eschenbach zugewinkt hatte, vergaß der Kommissar für einen Moment Corina. Lächelnd verließ er das Hauptgebäude der ETH und ertappte sich dabei, dass er ein Lied summte: »Raindrops keep falling on my head …«
    Draußen stand dick der Nebel. Auf dem kurzen Weg zur Polybahn fing ihn die feuchte Kälte wieder ein und er bemerkte, dass er seinen Mantel in der Mensa vergessen hatte. Mit einem eleganten Dreh auf dem Absatz machte er kehrt.

10
    Die nächsten drei Tage verliefen ruhig. Der Kommissar nervte seine Kollegen bei der Vermisstenstelle, indem er täglich dort anrief und sich in Sachen Konrad Schwinn erkundigte. Er ertappte sich dabei, dass ihm »dieser Schwinn« eigentlich völlig egal war, dass er es nur deshalb tat, weil er einen Vorwand suchte, sich bei Frau Ehrat zu melden. Und manchmal hoffte er insgeheim, sie würde es tun. Einmal rief er nachts im Institut an und hörte sich ihre Stimme auf Band an: »Montag bis Freitag von acht bis zwölf Uhr …« Und wieder kam ihm unweigerlich der Gedanke an Judith. So einsam, wie sich Eschenbach in diesem Moment fühlte, konnte er sich gut in ihre Lage hineinversetzen, so wie sie sich damals gefühlt haben musste.
    Er fragte sich, wie es Corina ging, und Kathrin, zusammen mit diesem Architekten-Wolfgang. Und als er wegen all dem wieder nicht einschlafen konnte, weil es schmerzte – und weil er ein sentimentales Arschloch war –, hörte er Daniel Barenboim, wie er das dritte Notturno von Liszt aus den Tasten hob: »O lieb, solang du lieben kannst.«
    »Hat jemand für mich angerufen?«, fragte er gelegentlich seine Sekretärin.
    Rosa hatte anfangs gereizt auf seine immer gleichen Fragen reagiert. »Ich notiere alle Ihre Anrufe«, pflegte sie pikiert zu antworten. Doch mit der Zeit merkte sie, dass etwas nicht stimmte, und ihr Ton wurde milder.
    Als der Kommissar sie an diesem Morgen wieder fragte, sagte sie: »Erwarten Sie jemand Bestimmtes?«
    »Nein, nein«, log Eschenbach und achtete darauf, dass es locker klang.
    »Vor

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