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Eistod

Eistod

Titel: Eistod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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Chapuis an und erklärte ihm kurz, warum er eine halbe Stunde später kommen würde.
    Jedes Mal wenn Schwinn ins ETH-Labor für Verhaltensneurobiologie fuhr, fiel ihm auf, dass kein einziges Schild auf die Forschungsstätte hinwies. Sie waren vor Jahren entfernt worden, als Tierschützer mit einem Großaufmarsch versucht hatten, das Gelände zu stürmen. Siebzigtausend Versuchstiere pro Jahr; für einen WWF-Romantiker musste dies die schiere Apokalypse bedeuten.
    Schwinn war anderer Ansicht. Er stellte seinen Wagen auf einem der Parkfelder vor dem Institut für Neurobiologie ab, stieg aus und meldete seinen Besuch an der Pforte.
    Marc Chapuis war ein schlaksiger Mann Ende vierzig, mit blutleeren Lippen und grauen Augen. »Wir mussten die Sache abbrechen«, sagte er trocken. »Du ’ättest dir diese Fahrt wirklich sparen können.« Mit seinem französischen Akzent klang auch die schlechteste Nachricht wie eine Liebeserklärung.
    »Ich weiß«, sagte Schwinn und legte seine Daunenjacke über die Stuhllehne in Chapuis’ Büro. »Aber die Resultate der Versuchsreihen, die wir bereits haben … die sollten doch reichen, oder nicht?«
    Chapuis nickte. »Trotzdem werde ich gehen nach Deutschland. Ich ’abe genug von dieser Polemisierung deiner Regierungsbe’örde.«
    Schwinn wollte weder über Chapuis’ Karriereplanung noch über irgendwelche Behördenentscheide diskutieren. Das Einzige, was ihn interessierte, waren die neuesten Ergebnisse der Marmoset-Versuche.
    Marmosets waren kleine, wuschlige Krallenaffen, die ursprünglich aus den Wäldern Südamerikas stammten und die in Schwerzenbach nachgezüchtet wurden. Über siebzig Tiere waren in die Versuche einbezogen. Die Affen wurden in der Wissenschaft als Primaten bezeichnet und bildeten für Forschungszwecke eine Brücke zwischen Nager und Mensch. In der Depressionsforschung waren sie deshalb von Nutzen, weil ihre Psyche jener des Menschen am ähnlichsten ist.
    Der Versuch war in drei Stufen auf sechs Jahre ausgelegt.
    In einem ersten Schritt wurden Affenbabys, es waren immer Zwillinge, einer Zwangsdeprivation unterzogen. Vom zweiten bis zum achtundzwanzigsten Tag ihres Lebens wurde ein Zwilling zwischen dreißig und hundertzwanzig Minuten pro Tag gewaltsam von der Mutter getrennt, und zwar zu immer anderen Tageszeiten. Dank einer Reihe ähnlicher Experimente war bekannt, dass eine hohe Korrelation zwischen frühkindlicher Deprivation und Depression besteht. Um diesen Effekt zu verstärken, wurde den deprivierten Jungtieren zusätzlich der Stoff Dexamethasone verabreicht. Also eine Substanz, die man aus der Therapie von Frühgeburten kannte und die als Nebenwirkung beim Menschen unter anderem Depressionen verursacht. Auf diese Weise erhielt man eine Generation Äffchen, die im direkten Vergleich zu ihren gleichaltrigen Geschwistern ängstlich und in ihrem Sozialverhalten hochgradig gestört war.
    Die zweite Stufe des Versuchs bestand darin, eine breite Palette therapeutischer Substanzen, darunter auch das von Winter entwickelte Proetecin , an den Zuchttieren zu testen. Und in der abschließenden dritten Phase, zu der es aufgrund des Abbruchs gar nicht mehr kommen würde, hatten sie anhand von Zuchtreihen die Auswirkung auf die Erbfolge der Tiere untersuchen wollen.
    Konrad Schwinn sah sich zusammen mit Chapuis auf dem PC einige kurze Filmaufnahmen an. Sie zeigten die Tiere in den verschiedenen Stadien der Behandlung. Anfangs hockten die ängstlichen Äffchen abseits der Gruppe und sahen ihren Geschwistern beim Spielen zu. Manchmal fuhren sie sich mit den schwarzen Krallenhändchen über ihre pelzigen, hellen Köpfe oder bissen sich plötzlich selbst. Hilflosigkeit hatte auch hier ihre Gesten.
    In einer Aufnahme, die ein halbes Jahr später datierte, waren die Tiere wie ausgewechselt. Sie waren überhaupt nicht mehr von ihren gesunden Kumpanen zu unterscheiden.
    »Das ist sensationell.« Schwinn sah sich die Laborwerte an und hob erfreut die Augenbrauen. » Proetecin ist die Grundlage für ein perfektes Medikament.«
    »Eben.« Chapuis nahm die Brille ab und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Es war dieselbe Geste wie bei den deprimierten Marmosets. »Nach Versuchsende ’aben wir die Ge’ege gewechselt … drei Tage später waren zwei Tiere tot. Die anderen sind in einem kritischen Zustand.«
    »Nur die Proetecin -Tiere?«, wollte Schwinn wissen.
    »Ja, nur die … wir klären noch immer ab.«
    Eine Zeit lang saß Schwinn schweigend da und dachte nach. Sie

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