Eistod
Es gibt wunderschöne Kliniken in Florida, wissen Sie. Und das Wetter ist die ganze Zeit über heiter.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sagt, sie brauche den Winter. Ihn durchzustehen sei wie Anlaufnehmen für den Frühling und fürs Weiterleben. Es ist schwierig, das alles zu verstehen.«
»Ja, vielleicht.«
Sie überquerten die Brücke. Rechts vor ihnen stand jetzt das Landesmuseum. Es sah aus wie ein Gespensterschloss, beleuchtet durch das Licht der Scheinwerfer, die auf das alte Gemäuer, die Zinnen und Türme gerichtet waren. Es fing wieder leicht zu schneien an.
»Ich möchte mit offenen Karten spielen, Herr Kommissar. Sie haben sicher herausgefunden, dass ich meiner Mutter das Medikament beschafft habe. Die Substanz, mit der Winter derzeit seine Forschungen betreibt.«
Eschenbach sagte nichts. Mit ausdruckslosem Gesicht setzte er einen Fuß vor den andern.
Der Biochemiker blieb einen Augenblick stehen. »Doch, doch«, sagte er. »Sie sind ein smarter Typ … Sie haben das sicher herausgefunden.«
»Spätestens jetzt weiß ich’s ja.« Der Kommissar sah Meiendörfer prüfend an.
Der junge Mann verzog den Mund zu einem Lächeln. »Und ziemlich ausgebufft … ich nehme an, die Tabletten sind bereits im Labor?«
Eschenbach schwieg. Offenbar wollte Meiendörfer herausfinden, welchen Informationsstand die Polizei hatte. Er war ein Nachrichtendienstler. Trauen konnte man ihm nicht.
»Es würde mich nicht wundern … Trotzdem, ich erzähle Ihnen jetzt, wie alles gewesen ist.«
Diesmal nickte der Kommissar deutlich.
Vom Eisfeld vor dem Museum kam lautes Gegröle. Ein paar Halbwüchsige jagten auf Kufen den Mädchen hinterher. Meiendörfer deutete mit dem Kinn Richtung Park. Sie setzten ihren Spaziergang fort.
»Es war beim Militär, in Zimmerwald … Ende letzten Jahres. Ich bin dort in einer Einheit für Elektronische Kriegsführung. Wir verschaffen uns via Satelliten Informationen … Sie haben vielleicht davon gehört.«
»Es stand kürzlich im Blick … im Zusammenhang mit Winter.«
»Ja. Obwohl … was da stand, es war eine Fehlinformation.«
»Das weiß ich mittlerweile auch.«
»Natürlich. Es tut auch nichts zur Sache. Jedenfalls suchen wir dort verwertbare Informationen. Und grundsätzlich ist nur brauchbar, was das Ausland betrifft. Das ist gesetzlich geregelt. Innerschweizerische Angelegenheiten dürfen nicht ausgewertet werden.«
»Und trotzdem haben Sie dort etwas gefunden«, folgerte Eschenbach.
»Richtig. Eine klinische Studie, basierend auf Winters Proetecin .«
Der Biochemiker erklärte Eschenbach, dass der Professor im Begriff war, mit seiner neuen Wirkstoff-Generation einen weiteren Meilenstein zu setzen. »Gerade weil ich den Professor von meiner Tätigkeit beim SND kannte und eigentlich glaubte, über den Stand seiner Forschungen informiert zu sein, überraschte mich die Studie.«
»Weshalb?«
»Da muss ich etwas weiter ausholen.«
»Dann tun Sie’s.«
»Man streitet sich in der Wissenschaft darüber, ob Depressionen einer erblichen Disposition bedürfen, also grundsätzlich genetische Ursachen haben, oder ob sie durch Fehlregulationen an der sogenannten hormonellen Stressachse ausgelöst werden. Traumatische Erlebnisse in der Kindheit oder, wie bei meiner Mutter, eine hormonelle Dysfunktion aufgrund einer Geburt.«
»Kann nicht beides eine Rolle spielen?«
»Doch, auf jeden Fall. Wir konnten bis heute nicht ausschließen, dass bei Mutter auch eine erbliche Vorbelastung gegeben ist. Jedenfalls hatte meine Tante Klara große Angst und verzichtete darauf, Kinder zu kriegen.«
»Dafür hat Frau Sacher Sie adoptiert.«
»Ja. Obwohl … man sollte seine Wurzeln nicht leugnen. Auch dann nicht, wenn sie krank sind.« Meiendörfer machte eine Pause.
»Sie haben Ihren Namen wieder angenommen … später, ich weiß. Erzählen Sie mir mehr von diesem Medikament.«
»Wir glauben, dass Winter eine präzise Vorstellung davon hat, wie genetische Disposition, Neurotransmitter und Hormone zusammenspielen. Und auf dieser Erkenntnis muss er seinen neuen Wirkstoff aufgebaut haben. Nehmen Sie die derzeit erfolgreichen Antidepressiva … diese regulieren lediglich den Versorgungsprozess mit körpereigenen Stoffen. Im Wesentlichen sind das die Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin. Sie ändern die genetische Zellstruktur nicht. Oder anders gesagt, sie machen aus Ihnen keinen neuen Menschen.«
»Und bei dieser neuen Substanz ist das anders?«
»Ja, wir vermuten
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