Eiswind - Gladow, S: Eiswind
Christina verächtlich, und in ihrem Blick, den er im Rückspiegel auffing, lag tiefe Verachtung.
»Auch eine?«, fragte er und drehte sich, die Schachtel in der rechten Hand, zu ihr um, während er mit der Zigarette in der linken lenkte.
»Pass auf!«, waren die letzten Worte, die er in dieser Nacht vernahm. Danach erinnerte er sich nur noch an das bedrohlich zuckende Blaulicht und die heulenden Sirenen der Rettungsfahrzeuge.
Claudia Schulte starb am 24. Juni 1993 im Alter von fünfzehn Jahren bei einem tragischen Verkehrsunglück.
10. KAPITEL
A nna Lorenz schlug die Akte zum Verfahren gegen Alexander Jensen zu und schauderte. Der Bundeszentralregisterauszug, den sie über den Beschuldigten angefordert hatte, wies eine Jugendstrafe wegen fahrlässiger Tötung aus, weshalb sie am Vortag seine Akte aus dem Archiv angefordert hatte. Ihr war es nicht gelungen, die Unterlagen neutral wahrzunehmen. Beim Lesen standen ihr die Tränen in den Augen. Es nahm sie mit. Alles nahm sie in letzter Zeit so schrecklich mit.
Dabei war es wichtig, die Schriftstücke sachverständig zu lesen. Zu hinterfragen, welches Aggressionspotenzial in Alexander Jensen steckte. Die Beurteilung seiner Persönlichkeit und der Tatumstände aus dem Urteil herauszufiltern. Doch alles, was sie im Moment wahrzunehmen imstande war, war der Schmerz, den Christinas Mutter verspürt haben musste, als sie eines ihrer Kinder verloren hatte.
Anna legte die Akte auf die Fensterbank und griff nach einem Stapel anderer Verfahrensakten, entschlossen, sich mit ein paar einfachen Fällen wie Urkundenfälschung oder notorischen Schwarzfahrens abzulenken. Sie nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher, der unberührt neben ihr stand. Der Tee war bereits kalt.
Die Haare zurückstreichend, atmete sie einmal tief durch, bevor sie das erste Schriftstück ergriff und zu arbeiten begann.
Oberstaatsanwalt Tiedemann huschte an ihrem Büro vorbei, blickte kurz herein und deutete auf die Robe über seinem Arm. Er war ersichtlich in Eile. Dennoch verweilte er einen Moment in der Tür.
»Ich bin spät dran«, erläuterte er mit einer hilflosen Geste. »Meine Tochter…« Er verdrehte die Augen.
Anna lächelte verständnisvoll.
»Der Pflegedienst war wieder mal unpünktlich«, erklärte er sein eigenes Zuspätkommen.
»Sie machen sicher drei Kreuze, wenn Sophies Schlüsselbeinbruch verheilt ist«, sagte Anna lächelnd.
»Mit Sicherheit! Dann wird alles wieder etwas einfacher«, seufzte er.
Anna nickte nur.
»Ich weiß nicht, was ich mit diesem Kind machen soll«, bemitleidete er sich selbst. »Sie ist so verschlossen.«
»Sie ist fast sechzehn«, seufzte Anna. »Was erwarten Sie? Alle Kinder sind in diesem Alter so.«
Es behagte ihr nicht, dass sie in den vergangenen Wochen mehr und mehr zu seiner Ansprechpartnerin in Erziehungsfragen geworden zu sein schien. Oberstaatsanwalt Tiedemann fehlten offenbar private Kontakte. Er vergrub sich in seiner Arbeit und schien unglücklich zu sein.
Dabei besteht für ihn wenig Anlass dazu, dachte sie bitter. Er besaß in ihren Augen alles, was man sich wünschen konnte.
Der Oberstaatsanwalt hatte ein Kind. In seinem Leben gab es Sophie, und für Anna war es gänzlich unverständlich, dass er sich ständig dafür zu bedauern schien, dass sein Kind behindert war. Natürlich war es ihr klar, dass es für ihn als alleinerziehender Vater nicht einfach war. Aber in erster Linie war Sophie ein intelligentes Mädchen, und Anna war überzeugt, dass sie ihr Leben trotz der Behinderung gut meistern würde. Sicher, Sophie war in der Pubertät, aber statt diesem Umstand mit der nötigen väterlichen Gelassenheit und vielleicht auch mit etwas Humor zu begegnen, war er ständig am Stöhnen.
Natürlich war es nicht leicht, dass ihm bei der Erziehung keine Frau zur Seite stand und Sophie keine Mutter hatte. Jedenfalls keine, die präsent war. Nach allem, was Anna wusste, glaubte Sophie, ihre Mutter sei verstorben.
Vielleicht ist das besser, als immer mit der Frage leben zu müssen, warum man verlassen worden war, überlegte Anna. Sie war sich nicht sicher, ob man Sophie auf Dauer die wahren Umstände vorenthalten sollte, aber wahrscheinlich hatte Tiedemann recht, wenn er den augenblicklichen Zeitpunkt für nicht geeignet hielt, die Wahrheit zu offenbaren.
Das Klingeln des Telefons riss Anna aus ihren Gedanken. Kommissar Bendt war am Apparat.
»Guten Morgen, Frau Lorenz«, begrüßte er sie.
»Hallo, Herr Bendt, was gibt’s Neues?«,
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