Eiszeit in Bozen
sie ihren Schock
überwunden hatte? Konnten sie jemals wieder ein normales Paar werden? Würden
sie irgendwann einmal wieder entspannt am Auener Joch picknicken, sich küssen,
sich lieben?
Als ihn Marzoli nachmittags an der Klinik absetzte, stieg Vincenzo
mit wackeligen Knien und einem mulmigen Gefühl die Eingangsstufen hinauf.
Gianna und Mauracher waren in Einzelzimmern untergebracht.
Vincenzo war zunächst mit der Gerichtsmedizinerin in der Cafeteria
der Klinik verabredet. Dottoressa Paci hatte Gianna am Vormittag einer ersten
Untersuchung unterzogen.
»Soweit ich es beurteilen kann, hat Oberrautner Ihrer Freundin
nichts angetan, Commissario. Keinerlei Verletzungen, keine Abwehrspuren, keine
Hinweise auf sexuelle Übergriffe. Aber sie ist schwer traumatisiert. Sie hat
nicht mit mir gesprochen, war während der Untersuchungen abwesend, beinahe
apathisch. Natürlich hat eine solche Isolationshaft immer traumatische Folgen,
voraussichtlich benötigt sie eine längere Therapie, um das Geschehen zu
bewältigen. Sie brauchen viel Geduld.« Oberrautners Leichnam wollte Paci am
Dienstag obduzieren, mit ersten Ergebnissen rechnete sie am Mittwoch.
Obwohl ihn Paci gewarnt hatte, ging Vincenzo zu Gianna. Vielleicht
konnte er ihr keine Fragen stellen, aber er wollte sie unbedingt sehen. Wie
gern hätte er sie in den Arm genommen, getröstet, ihr gesagt, dass er sie
liebte, dass er immer für sie da sein würde. Sie hatten beide so viel
durchgemacht, sie mussten doch zusammenhalten!
Aber Gianna sprach nicht mit ihm, sie sagte kein einziges Wort. Zwar
ließ sie zu, dass er sie umarmte, blieb aber, wie Paci es beschrieben hatte:
apathisch. Vincenzo war, als hätte er nur ihre lebende Hülle vor sich, der Rest
schien in den Bergen geblieben zu sein.
Dottoressa Paci hatte ihn darauf hingewiesen, dass ihr Zustand auch
eine Folge des Stockholmsyndroms sein konnte. Da Giannas Entführer über so
lange Zeit ihr einziger Kontakt zur Außenwelt war und sie von ihm vollständig
abhängig war, um zu überleben, hatte sie möglicherweise positive Gefühle zu ihm
entwickelt. Wer weiß, was er ihr über das Verhalten der Polizei und über
Vincenzo selbst erzählt hatte! Aber was in jenen zwei Wochen in den eisigen
Tiefen des Presanellagletschers tatsächlich geschehen war, würde man
möglicherweise nie ganz herausfinden.
Sein letzter Besuch galt an diesem Tag Sabine Mauracher, der
jungen Kollegin in Ausbildung, deren außergewöhnlicher Mut Gianna das Leben
gerettet hatte. Er selbst wäre mit Sicherheit zu spät gekommen.
Mauracher erzählte ihm, was geschehen war. Sie hatte kaum
Gelegenheit gehabt, mit Gianna zu sprechen, alles war so schnell gegangen. Kaum
hatte sie Gianna gefunden, tauchte der Entführer auf, das Gesicht mit einer
Sturmmaske getarnt. Sie waren ihm nur um Haaresbreite entkommen. Mauracher
betonte noch einmal, dass es nie und nimmer dieser Junkie gewesen sein konnte,
der wie ein Irrer hinter ihnen her gerast war. Das hätte der seinem ganzen
Lebenslauf zufolge überhaupt nicht draufgehabt!
Für Vincenzo hingegen war die Sache klar. Trotz der zahlreichen
Verletzungen infolge des Sturzes hatte er in dem Toten am Fluss Oberrautner
erkannt. Spätestens am Mittwoch würde ihn auch seine Frau identifizieren. Alle
Indizien sprachen gegen ihn, der Fall würde am Donnerstag abgeschlossen werden.
Die Folgen von Giannas Gefangenschaft aber würden wohl kein so
schnelles Ende finden. Das wird sie ihr Leben lang verfolgen, dachte Vincenzo
traurig. Er sah Mauracher an, die ungeduldig auf ihrem Krankenbett hin und her
rutschte und das Krankenhaus wohl am liebsten sofort verlassen hätte. »Eines
müssen Sie mir verraten, Sabine. Warum haben Sie sich auf diesen Wahnsinn
eingelassen? Sie hätten dabei draufgehen können, das wissen Sie!«
Sie lächelte ihn an. »Schon möglich, aber ich will Polizistin
werden. Dazu gehören auch solche Einsätze. Außerdem lässt man einen Kollegen
nicht hängen. Ist doch so, oder? Hätten Sie umgekehrt nicht dasselbe getan?«
Auch wenn Vincenzo ihr gern einen Vortrag gehalten hätte über die
Notwendigkeit, bei solchen Alleingängen die Kollegen zu informieren, kam er
doch nicht umhin, Mauracher zu bewundern. Hinter ihrer lockeren, für
konservativere Kollegen provokanten Art verbarg sich ein großes Herz. Er nahm
sich vor, der jungen Kollegin auf ihrem Weg jede erdenkliche Hilfe zuteilwerden
zu lassen.
Abends saß er in seiner Wohnung, blickte durch das
Panoramafenster in das triste Grau.
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