Eiszeit in Bozen
Auch in Sarnthein hatte es den ganzen Tag
geschneit, allerdings nicht allzu heftig. Es lagen nur dreißig Zentimeter
Schnee, und die Straßen waren frei. Das Außenthermometer zeigte knapp unter
null Grad an. Für die nächsten Tage waren noch gelegentliche Schneefälle ab
siebenhundert Meter Höhe angesagt, insgesamt würde es jedoch ruhiger werden.
Vincenzo kannte das. Egal, wie heftig ein früher Wintereinbruch gewesen sein
mochte, irgendwann kehrte der Spätsommer nach Südtirol zurück.
Er schenkte sich das dritte Glas Lagrein ein und ließ die Ereignisse
noch einmal Revue passieren. So hatte er sich seine Zeit in Bozen nicht
vorgestellt: Innerhalb eines Jahres hatte er es gleich zweimal mit Wahnsinnigen
zu tun bekommen.
Warum passierte das ausgerechnet ihm, einem Commissario im
friedlichen Südtirol? Gab es etwas an ihm, das solche Typen anzog? Er musste
sich eingestehen, dass er Mauracher insgeheim zustimmte. Das konnte kein Zufall
sein, auch wenn alle Indizien darauf hinwiesen. Aber wie sollte er jetzt,
nachdem der Täter tot war, jemals herausfinden, wie all das wirklich
zusammenhing?
Was wurde nun aus Gianna und ihm? Am späten Nachmittag hatte ein
Psychologe ihm erklärt, Giannas Realitätswahrnehmung sei vollkommen aus den
Fugen geraten. Sie glaubte weder ihm noch ihren Eltern, und erst recht nicht
der Polizia di Stato. Stattdessen war sie davon überzeugt, dass es ein Komplott
gegen ihren Entführer gegeben habe, der von Vincenzos Polizei in den Tod
getrieben worden war. Die Briefe des Spielführers an
ihren Freund hielt sie für eine Fälschung, die nur dem Zweck dienen sollte, sie
zu beeinflussen. Wahrscheinlich würde diese Bewusstseinsverzerrung durch die
Therapie allmählich beseitigt, aber es war offen, ob sie jemals wieder in der
Lage war, ihren Freund zu lieben.
Er goss sich erneut nach. Beeindruckend, wie schnell eine Flasche
Wein leer war. Er entkorkte die nächste.
Während er wieder in die Dunkelheit hinausstarrte und ab und zu
einen Schluck Wein trank, liefen ihm stille Tränen übers Gesicht. Er bereute
aus tiefster Seele, dass er Polizist geworden war.
21
Gerichtsmedizin, Donnerstag, 21. Oktober
»Frau Oberrautner, ist das Ihr Mann?«
Am Donnerstag lagen die Ergebnisse der Obduktion vor. Vor der
Besprechung mit Paci hatte Vincenzo Elisabeth Oberrautner gebeten, ihren Mann
zu identifizieren. Mit versteinerter Miene und bemerkenswerter Contenance
blickte sie auf den Toten vor sich. »Ja, das ist Michael. Michael Oberrautner,
geboren am 18. April 1962. Ein sanftmütiger, gutherziger, sensibler
Mensch, der niemals die Sonnenseite des Lebens kennenlernen durfte. Michael
Oberrautner, mein Mann und das geborene Opfer.« Sie blickte auf und sah
Vincenzo in die Augen. »Eines ist er gewiss nicht: ein Täter.«
Vincenzo empfand tiefes Mitleid mit dieser Frau, die ihren Mann
offensichtlich so sehr liebte, dass sie seine Taten verleugnete. Eine normale
Reaktion. »Vielen Dank, Frau Oberrautner. Sie haben uns sehr geholfen.«
Sie ging um den Tisch herum, trat nah an Vincenzo heran und sagte
ebenso leise wie eindringlich: »Finden Sie den Mörder meines Mannes,
Commissario!« Dann drehte sie sich um und verließ wortlos die Gerichtsmedizin.
Marzoli, dem der Stress und die Anstrengungen der vergangenen Tage
noch anzusehen waren und der die Szene beobachtet hatte, bemerkte: »Ich weiß
nicht, das war jetzt direkt unheimlich, wie sie das gesagt hat. Aber ich kann
mir nicht helfen, auch ich habe inzwischen durchaus Zweifel daran, ob dieser
Mann das wirklich alles allein durchgezogen haben kann.«
Ehe Vincenzo auf die Faktenlage verweisen konnte, meldete sich Paci
zu Wort, der es erstmals gelungen war, ihre Löwenmähne in einer aparten
Hochsteckfrisur zu bändigen. Sie sah auf einmal ganz anders aus, weiblicher,
weicher. »Ich wusste, wie unsicher Sie sich trotz zahlreicher Indizien in der
Frage waren, ob tatsächlich Michael Oberrautner der alleinige Täter ist.
Dementsprechend gründlich habe ich gearbeitet.«
Die Obduktion hatte zu eindeutigen Ergebnissen geführt. Als der
Leichnam in dem zerstörten Jeep gefunden wurde, hatte die Leichenstarre eingesetzt.
Sie begann meistens wenige Stunden nach Eintritt des Todes und dauerte ein bis
zwei Tage.
Bei der Einlieferung von Oberrautners Körper in der Gerichtsmedizin
begann sich die Leichenstarre gerade zu lösen. Das deutete darauf hin, dass der
Mann, als der Wagen in die Schlucht gestürzt war, wahrscheinlich noch gelebt
hatte, zumal Paci
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