Eiszeit in Bozen
Einsatz seiner Skistöcke gar nicht mehr vorankam. Er sah die kleine Gruppe
von Menschen, die angestrengt den Abhang hinunterschauten. Dann erblickte er
Gianna. Sie stand abseits an einem der Geländewagen.
Vincenzo wurde ganz plötzlich leicht ums Herz. Es war tatsächlich
vorbei! Gianna war gerettet und unversehrt, Mauracher eine Heldin, Oberrautner
tot. Er sprang von den Skiern, rannte zu den Einsatzfahrzeugen, riss Gianna an
sich. Er drückte sie, überhäufte sie mit Küssen auf den Kopf und die Stirn.
»Gianna, mein Schatz, mein Engel, du lebst! Es ist vorbei! Mein Gott, was habe
ich mir Sorgen gemacht. Geht es dir gut? Hat er dir etwas getan?« Es sprudelte
aus ihm heraus.
Gianna stand regungslos da, starr wie eine Puppe. Sie erwiderte
Vincenzos Umarmung und Küsse nicht, schaute aus leeren Augen in das
Schneegestöber. Vincenzo redete weiter auf sie ein, seine Erleichterung war zu
groß, als dass er Giannas merkwürdige Regungslosigkeit bemerkt hätte. Er küsste
sie ins Gesicht, auf den Mund. Sie hielt still, sagte kein Wort. Schließlich
riss sie sich mit einem Ruck los, stieg wortlos in einen der Einsatzwagen und
verriegelte ihn von innen, ohne ihren Freund anzusehen.
Perplex stand Vincenzo da und sah auf Gianna, die mit unbeweglichem
Blick ein imaginäres Ziel in den Wipfeln der vom Sturm geschüttelten Bäume zu
fixieren schien. In diesem Augenblick begriff er, dass das Schwein doch
gewonnen hatte.
Es schien, dass er seine Gianna verloren hatte, aber auf eine andere
Weise als durch den Tod. Oberrautner hatte sich nicht damit zufriedengegeben,
sie zu entführen, er hatte sie offenbar einer Gehirnwäsche unterzogen. Und
vielleicht hatte er noch ganz anderes mit ihr angestellt, sie unter Drogen
gesetzt, verletzt, vergewaltigt … Vincenzos Magen krampfte sich zusammen, die
Erleichterung wich unendlicher Trauer. Er sah in den Jeep zu Gianna, die seinen
Blick nicht erwiderte. Er begann zu weinen.
20
Val Vermiglio, Montag, 18. Oktober
Nach dem Sturz des Jeeps in die Schlucht mussten die
Polizisten abziehen. Der Sturm legte weiter zu, die Gefahr, dass sie von
umstürzenden Bäumen getroffen wurden, war zu groß. Die beiden Frauen wurden
sofort zurück nach Bozen gebracht, zur Untersuchung in einer Klinik. Vincenzo,
Marzoli und Baroncini blieben in Vermiglio und mieteten sich in einem Hotel
ein.
Über Nacht sank die Temperatur weiter, in den Morgenstunden schneite
es bis auf siebenhundert Meter herab. Am Vormittag, als die hiesigen
Carabinieri mit schwerem Räumfahrzeug vormittags erneut anrückten, um den Jeep
zu untersuchen und Oberrautners Leichnam zu bergen, war der Ort von einer
sechzig Zentimeter dicken Schneedecke überzogen, die Temperatur betrug minus drei
Grad. Nur der Wind hatte spürbar nachgelassen. Sämtliche Nebenstrecken und
Pässe waren gesperrt, die schweren Kettenfahrzeuge kämpften sich langsam durch
den Schnee, der weiterhin in dichten Flocken vom Himmel fiel.
Der Trupp, dem sich auch die Bozener Polizisten und die inzwischen
eingetroffene Spurensicherung unter Leitung von Reiterer angeschlossen hatten,
erreichte um elf Uhr das Ende des befestigten Weges auf Höhe des »Masi Stavel«.
Wenige hundert Meter taleinwärts fanden sie das Wrack. Es lag auf dem Dach, ein
paar Meter vom Fluss entfernt, der durch die Dauerniederschläge bedenklich
angeschwollen war. Die Spurensicherung begann sofort mit der Arbeit. In dem
völlig zerstörten Wagen entdeckten sie eine übel zugerichtete männliche Leiche,
die dem Augenschein nach nicht angeschnallt gewesen war.
Die Bozener Polizisten überließen den Unfallort der Spurensicherung
und fuhren in den Ort zurück. Im Hotel verteilte Baroncini die dringlichsten
Aufgaben. »Wir fahren zurück nach Bozen, hier können wir nichts mehr
ausrichten. Commissario, versuchen Sie mit Gianna zu sprechen. Ich will wissen,
was in den letzten zwei Wochen geschehen ist. Danach können Sie nach Hause
fahren. Sie brauchen Ruhe. Ohne die Ergebnisse von Spurensicherung und
Gerichtsmedizin kommen wir ohnehin nicht weiter.«
Baroncini wollte später mit Reiterer zurückfahren, Vincenzo und
Marzoli setzten sich sofort ins Auto. Ab Malè regnete es, bis hier herunter war
der frühe Wintereinbruch nicht gekommen. Die schweren Regentropfen hämmerten
auf die Windschutzscheibe. Auf der Rückfahrt sprachen beide kaum ein Wort, sie
waren vollkommen erschöpft. In seiner Sorge um Gianna hatte Vincenzo die ganze
Nacht nicht schlafen können. Wie lange würde es dauern, bis
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