Eiszeit in Bozen
sichergestellt hatte. Im Kofferraum lagen
Jacken, Schal und Handschuhe, die alle eindeutig ihm gehörten. Außerdem befand
sich in seiner Jackentasche eine Armbanduhr. Vincenzo erkannte sofort, dass es
Giannas Uhr war. Eines allerdings war nicht aufgetaucht: Zabatinos Codekarte.
Sie blieb verschollen, man hatte sie weder in Zabatinos Wohnung noch in seinen
Kleidern gefunden. Aber so eine kleine Codekarte konnte sehr leicht verloren
gehen. Vermutlich hatte ihr Verschwinden keinerlei Bedeutung.
Vincenzo seufzte. Ohne dieses blöde Diazepam würde alles perfekt
passen. Im Gegensatz zu Elisabeth Oberrautner war Vincenzo keineswegs der
Meinung, dass ein Mann, der Trost bei Stofftieren suchte und Insekten
verschonte, nicht zugleich ein brutaler Mörder sein konnte. Und ein Motiv –
nämlich Rache am Polizeiapparat – lag schließlich auch vor.
Die Akte wurde geschlossen, mit Michael Oberrautner als Täter. Er
hatte sich selbst gerichtet, als er keinen Ausweg mehr sah. Der »Feuerteufel«
Filippo Garoffolo, der Bozen zu keinem Zeitpunkt verlassen hatte, wurde erneut
festgenommen.
Hochzufrieden stellte der Capo della Polizia fest, dass es der
Bozener Polizei gleich zweimal innerhalb eines Jahres gelungen war, einen
Wahnsinnigen zu stoppen, neben dem die Taten der Mafia wie harmlose Streiche
wirkten. So etwas liebte Dottore Luciano Patricello, und nachdem die Medien die
Polizei und damit auch ihn ausgiebig lobten, zeigte er sich nachsichtig, dass
bei den Ermittlungen der eine oder die andere eigenmächtig gehandelt und ein
paar kleinere Vorschriften übertreten hatte.
22
Sarnthein, Samstag, 23. Oktober
Vincenzo hatte sich am Freitagabend noch mit ein paar
Freunden getroffen. Lachen, zusammen Bier trinken, Bergtouren planen, ganz
normaler Alltag, das tat gut. Das Wetter war wieder besser geworden, entgegen
aller Vorhersagen hatte ein straffer Nordföhn eingesetzt, und in Südtirol war
es kühl, aber trocken. Für heute hatte Vincenzo eine lange Bergtour geplant.
Er hatte den Frühstückstisch sorgsam gedeckt und sich sogar ein Glas
Prosecco eingeschenkt, um sich vorzustellen, dass Gianna bei ihm wäre. Wenn sie
bei ihm zu Besuch war, tranken sie morgens oft ein Glas zusammen. Nun fehlte
nur noch die Wochenendausgabe der »Dolomiten«. Er liebte es, beim Frühstück in
Ruhe Zeitung zu lesen.
Er trat vor die Haustür, um zum Briefkasten zu gehen, und atmete ein
paarmal tief ein. Jeder Wind hatte seinen eigenen Geruch, je nachdem, aus
welcher Richtung er wehte. Der föhnige Nordwind roch nur sehr schwach, aber er
erzeugte ein angenehmes, leicht prickelndes Gefühl im Gesicht, das Vincenzo
genoss. Hatte er vor wenigen Tagen die winterlichen Böen noch als unheilvolles
Omen gedeutet, empfand er nun den kühlen, frischen Föhnwind als ein Zeichen des
Aufbruchs, ein Versprechen darauf, dass alles gut werden würde.
Er hatte die schlimmste Zeit seines Lebens überstanden, so etwas
würde wohl nie wieder passieren. Gianna sprach seit gestern Nachmittag wieder
mit ihm, auch wenn sie ihm lediglich bittere Vorwürfe machte und seine
Zärtlichkeiten zurückwies. Aber er war sicher, sie würde ins Leben
zurückkehren, Schritt für Schritt. Vielleicht saßen sie im nächsten Sommer doch
wieder zusammen am Auener Joch, um zu picknicken, sich zu küssen, sich
leidenschaftlich zu lieben, ihre gemeinsame Zukunft zu planen.
Er öffnete den Briefkasten und wollte nach der Zeitung greifen, als
er erstarrte. Da lag ein Brief. Ein weißer Umschlag, nicht adressiert. Er nahm
ihn mit zitternden Händen heraus, vergaß die Zeitung, ging mit schwachen Knien
in die Wohnung zurück. Dort öffnete er mit einem Gefühl der Ohnmacht das
Kuvert.
Mein heißgeliebter Vincenzo,
wenn du diese Zeilen liest, ist es vorbei.
So oder so. Leider kann ich dir meine Nachricht nicht persönlich überbringen.
Ich finde es schade, dass wir gar keinen direkten Kontakt hatten. Und das,
obwohl wir uns auf einer höheren Bewusstseinsebene begegnet sind, die Menschen
wie uns vorbehalten ist.
Du und ich, was für ein Gespann! Vincenzo,
mit dir hatte ich die beste, schönste, intensivste Zeit meines Lebens.
Apropos Leben: Was meinst du – weiß ich, ob
du in diesem Moment noch dein unbedeutendes irdisches Leben besitzt, das dir
erlaubt, diesen Brief zu lesen? Wen oder was hast du im Schneesturm gesehen?
Ich habe viel über dich gelernt, mein teurer
Freund. Nicht nur deshalb weiß ich, dass du heute, an diesem Samstag, meine
Zeilen liest. Zeilen, die dir zeigen
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