Eiszeit in Bozen
als Todesursache zahllose Knochenbrüche und schwere innere
Verletzungen festgestellt hatte, die Folge des Sturzes gewesen sein mussten.
Der Tote wies außerdem eine Reihe äußerer Verletzungen auf, die zu sichtbaren
Blutungen geführt hatten – ein weiteres Indiz dafür, dass Oberrautner zum
Zeitpunkt des Unfalls noch am Leben gewesen war.
Paci rieb sich müde ihre Augen. Es gab kaum jemanden in der
Questura, der in den vergangenen Wochen nicht diverse Sonder- und
Nachtschichten eingelegt hatte. »Der Fall scheint also eindeutig zu sein.
Dennoch bin ich auf Ungereimtheiten gestoßen, die mich stören.«
Vincenzo konnte seine bange Ungeduld nicht im Zaum halten. »Dann
reden Sie, spannen Sie uns nicht auf die Folter, Signora!«
»Oberrautner hatte eine nicht unerhebliche Menge Diazepam im Blut.«
Beide Polizisten sahen Paci verständnislos an, abwehrend hob sie die Hände.
»Sie kennen das Medikament vermutlich besser unter dem Handelsnamen Valium.
Diazepam ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der Benzodiazepine. Es hat eine
angstlösende, krampflösende, beruhigende und schlafanstoßende Wirkung. Man
setzt es gerne ein, weil es wenige Nebenwirkungen hat. Es kann aber schnell
abhängig machen und hat ein paar unerwünschte Effekte. Die Patienten werden
davon träge, ihre Reaktionen verlangsamen sich. Da liegt mein Problem.
Einerseits mag das Diazepam Oberrautners Angst herabgesetzt haben, bei seinen
wahnwitzigen Aktionen zu verunglücken. Vielleicht hat er es deshalb überhaupt
eingenommen. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass er, egal wie
sportlich, mit dieser Menge Valium im Körper in einer undurchdringlichen
Nebelsuppe mit solchem Affenzahn einen spaltendurchsetzten Gletscher
hinunterrasen konnte.«
Vincenzo wurde noch ungeduldiger. Er wollte diesen Fall abschließen,
endgültig. Bloß keine Ungereimtheiten mehr! »Der Mann ist seit Ewigkeiten
drogenabhängig. Der ist daran gewöhnt.«
»Nein, Commissario, das tut nichts zur Sache. Die Wirkung ist
dieselbe. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Ich halte es für ausgeschlossen,
dass Michael Oberrautner unter dem Einfluss dieses Medikaments tausend Meter im
Schneesturm aufgestiegen, in einen Gletscher geklettert und dann auf Skiern
einen Steilhang hinuntergerast ist. Tut mir leid.«
***
Spurensicherung
Voll innerer Unruhe machte sich Vincenzo nun auf den Weg
zur Spurensicherung. Was ihm Paci gerade erzählt hatte, gefiel ihm überhaupt
nicht. Spontan machte er einen Abstecher in sein Büro, um Albertazzi anzurufen.
Er wollte die Gewissheit, dass das Monster noch immer in seiner Zelle saß.
Albertazzi konnte es ihm bestätigen, denn er hatte den Mann heute
Vormittag zusammen mit drei Sicherheitskräften sogar in seiner Zelle besucht.
Er hatte ihm mitgeteilt, er werde in der kommenden Woche als letzter Patient in
die neue Psychiatrie verlegt.
Also wurde der alte Bau doch endlich geschlossen. Dann hatten sich
der Chefarzt und die Gattin des Mailänder Fabrikanten nach ihrer Entdeckung
offensichtlich ein neues Liebesnest gesucht.
Als Vincenzo die Spurensicherung betrat, stand Marzoli ein wenig
verloren vor Reiterers Schreibtisch und sah sich genötigt, einer Kaffeetasse zu
huldigen. Der arme Marzoli, das nächste Opfer des erbarmungslosen Kunstkenners
Reiterer.
Bei Vincenzos Eintreten begann der oberste Spurensicherer zu
strahlen. »Ah, Commissario, treten Sie näher, es gibt viel zu erzählen. Meine
außergewöhnlichen Fähigkeiten haben wie immer zu schnellen und einzigartigen
Ergebnissen geführt. Aber nehmen Sie sich doch eins von meinen Kunstwerken und
befüllen es mit Espresso von Izzo.«
»Sie sind heute aber bester Laune, mein Lieber.«
Reiterer lachte. »Stimmt. Ich habe diesem selbstherrlichen
Kundendienst kräftig in den Arsch getreten. Was meinen Sie, wie schnell die da
waren! Mein Crosstrainer war im Handumdrehen repariert. Trinkgeld habe ich
natürlich nicht gegeben! Ich habe schon zwei Kilo runter. Das ist Ihnen
hoffentlich bereits aufgefallen?«
Vincenzo wollte unter allen Umständen vermeiden, sich Reiterers Zorn
zuzuziehen. »Gewiss, Signore. Gleich beim Reinkommen! Sie wirken außerdem fünf
Jahre jünger, mindestens! Was haben Sie denn an Fachlichem für uns?«
Zufrieden mit Vincenzos Schmeichelei zeigte sich Reiterer
auskunftsfreudig. Der Jeep war übersät mit Spuren von Oberrautner. Überall gab
es Fingerabdrücke, auch auf den Briefen, merkwürdigerweise jedoch nicht auf dem
Handy, das man ebenfalls in dem Wagen
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