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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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Mai 2010
    Wie das Maul eines Ungeheuers gähnt die
Kellertreppe, jede Stufe ein Zahn, und am Ende lauert schwarz der Schlund, der
mich verschlingen wird. Obwohl meine Füße mit jedem Schritt schwerer werden,
treibt mich das Klappern von Mutters Absätzen nach unten.
    Noch fünf Stufen, die Feuchtigkeit leckt an
meinen Fersen. Noch vier, es riecht nach schrumpeligen Äpfeln.
    Noch drei, und alle Härchen an meinen Armen
sträuben sich. Die Steinstufen wölben sich meinen nackten Zehen entgegen, als
wollten sie mir ein Bein stellen.
    Über die vorletzte Stufe stolpere ich; knalle mit
der Schulter gegen die Holztür, in die der Moder grüngraue Flecke gebissen hat.
    Mutter hat mich fast eingeholt. Sie schlägt mit
dem Leintuch nach mir. Rasch drücke ich die rostige Klinke hinunter. Die Tür
öffnet sich quietschend. Ich taumle in den dunklen Flur und tippe auf den
Lichtschalter. Eine Glühbirne flackert auf. Sie baumelt nackt an einem Kabel
wie eine vertrocknete Frucht und taucht den Korridor in trübes Gelb.
    Mutters Hiebe treiben mich in die Waschküche.
Hier hat Vater das Fenster mit Brettern vernagelt, um den Raum in eine
Dunkelkammer zu verwandeln. Irgendwann ist er ausgezogen, die Bretter sind
geblieben. Auch in der Waschküche gibt es eine Lampe, doch Mutter schraubt die
Glühbirne heraus.
    »Was wäre das für eine Strafe, mit Licht?«
    Mein Weinen lässt ihre Stimme noch eisiger
klingen. »Im Dunkeln denkt es sich besser. Also überleg dir, ob es angebracht
ist, mit sechs Jahren noch ins Bett zu pissen.« Das Leintuch mit dem Fleck, dem
Zeichen meiner Schande, lässt sie auf den Boden klatschen.
    Schon fällt die Tür hinter ihr ins Schloss. Mit
metallischem Rasseln dreht sich der Schlüssel. Dunkelheit umhüllt mich wie eine
Decke aus schwarzem Filz, legt sich um meinen Hals, bis ich kaum noch Luft
bekomme. Ich beginne zu zählen.
    Eins. Auf allen vieren krieche ich über den
Steinboden, taste mich zur Wand.
    Vier. Klümpchen wie von Erde zerbröseln unter
meinen Händen und verströmen einen scharfen Geruch.
    Rattendreck.
    Sieben. Ich kauere mich mit dem Rücken gegen die
Mauer, krümme meine Zehen und frage mich, wie lange es dauern wird, bis die
Ratten mich anknabbern. Ob sie sich bereits angeschlichen haben?
    Fünfzehn. Endlich hebt sich die Filzdecke von
meinen Augen. Ich erkenne einen hellen Rand oberhalb des Fensters und einen
unter der Tür. Das Schwarz weicht einem Grau, vor dem sich dunkle Schemen
abzeichnen. Rechts von mir sehe ich die Umrisse des alten Schranks, der früher
in Vaters Zimmer gestanden hat. Daneben kauert die Waschmaschine. Der Schatten
auf halber Höhe ist das Waschbecken.
    Plötzlich ein Luftzug. Eine Haarsträhne fällt mir
ins Gesicht. Aus dem Augenwinkel nehme ich ein Huschen wahr. Die Ratten
fliehen, fliehen vor ihnen .
    Die Kellerwesen sind da. Sie holen die faulen
Kinder; die unfolgsamen; die Bettnässer.
    Wie auf einen geheimen Wink setzen ihre Stimmen
ein. Sie raunen, flüstern, kichern und stöhnen. Sie fließen die Wand entlang.
Im Waschbecken ballen sie sich zusammen und tropfen aus dem Hahn.
    »Sbotsch!«
    Je angestrengter ich hinhöre, umso lauter und
schneller tropfen sie.
    »Sbotsch! Sbotsch!«
    Ich drücke meinen Rücken gegen die Kellerwand.
    »Sbotsch! Sbatsch! Sbjatsch!«
    Das ist kein Tropfen, sondern ein Schmatzen. Ein
Schmatzen von einem gierigen Mund, der sich an mir festsaugen und mich
ausschlürfen wird wie ein rohes Ei.
    Das Schmatzen stammt aus dem Maul der
Schattenkröte.
    Sie hockt im Waschbecken und späht herüber;
lauert auf eine falsche Bewegung von mir.
    Doch ich bewege mich nicht. Auf keinen Fall darf
ich mich bewegen. Obwohl mein Körper vor Kälte und vor Angst zittert, befehle
ich ihm, zu erstarren. Ich spüre, wie mein Rücken in die Kellerwand
hineinwächst, wie ich mit der Wand verschmelze, ein Teil von ihr werde; ein
Stück kalter, toter Stein. Sogar der Kloß, den die Angst mir in den Hals
geschoben hat, versteinert.
    Dr. Czerny lässt die Blätter sinken und nimmt seine Brille
ab. »Gut. Sehr gut. Sie haben Ihren Albtraum auf Papier gebannt. Wie haben Sie
sich dabei gefühlt? Ist es Ihnen schwergefallen?« Er nickt mir zu, väterlich,
als wäre ich immer noch das Kind aus meinen Aufzeichnungen.
    Ich antworte nicht. Mein Blick gleitet über seinen Kopf hinweg zum
Fenster, das einen Ausschnitt der Nordkette preisgibt.
    Über Nacht hat es in den Bergen geschneit. Die Brandjochspitze ist

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