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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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bis zu den Flanken in Weiß getaucht, ein Weiß, das einen harten Kontrast zum
wolkenlosen Blau des Frühlingshimmels bildet. Auch die Felsnadel der Frau Hitt
hat eine weiße Haube bekommen. Sie gleicht nicht mehr der hartherzigen Riesin
aus der Sage, sondern eher dem Zwerg Nase.
    »Natürlich ist es das«, antwortet Dr. Czerny sich selbst. »Aber
es ist notwendig. Ich bin überzeugt davon, dass es einen kausalen Zusammenhang
zwischen dem wiederkehrenden Traum und Ihrer Nyktophobie gibt.«
    Mehrfach streicht er über seinen grauen Spitzbart. Dann setzt er die
Brille auf, hinter der die Augen unwirklich groß und verschwommen erscheinen.
»Ihre Aufgabe bis zu unserer nächsten Sitzung wird eine Phantasiereise sein.
Begeben Sie sich im Geiste wieder in den Keller Ihres Albtraums.« Er pausiert,
hebt den Zeigefinger und lässt ihn in der Luft kreisen. »Doch diesmal nehmen
Sie einen Helfer mit, einen mächtigen Verbündeten, der Sie beschützt. Ich denke
da an einen Schutzengel. Oder an eine Art Superman, wenn Ihnen die Vorstellung
eines Engels zu altmodisch erscheint.« Er erhebt sich und reicht mir die Hand
zum Abschied. »Schreiben Sie auf, wer Ihr Helfer ist und wie Sie sich in seiner
Gegenwart fühlen.«
    Ich wende mich zur Tür.
    »Wir verwandeln Ihren schlimmsten Albtraum in ein wunderbares
Märchen. Dann werden Sie die Angst vor der Dunkelheit abstreifen wie ein
lästiges Insekt.« Begeisterung schwingt in seiner Stimme, Begeisterung über
seine eigene Genialität.
    Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.
    Ich lache auf.
    Wie ein lästiges Insekt. Dieser alte Scharlatan. Was er wohl sagen
würde, wenn er wüsste, dass mein Albtraum kein Traum ist, sondern eine
Erinnerung?

EINS
    München, Juni 2010
    Sein Gesicht glänzte schweißnass. Grinsend schlenderte der
     Glatzkopf auf Vera zu. Er war nicht viel größer als sie, aber dreimal so breit.
     Schultern wie Schwarzeneggers Sohn. Der Stoff des T-Shirts spannte sich über
     seinem Bizeps.
    Das Muskelspiel beachtete Vera nicht. Ihre Augen fixierten seine
     Hand. Die Hand, die das Messer hielt.
    Vera hob die Arme, als versuchte sie, den Angreifer hinter einen
     unsichtbaren Zaun zu bannen.
    Unbeirrt rückte er vor. Zwei Schritte.
    Sie wich zurück. Zwei Schritte.
    Sie wollte schlucken, aber ihre Zunge klebte wie eine verdorrte
     Raupe am Gaumen. Alles, was ihr Körper an Feuchtigkeit zu bieten hatte,
     sammelte sich auf der Stirn. Ein Schweißtropfen löste sich, kullerte über die
     Schläfe und kitzelte sie am Ohr.
    Das Grinsen des Glatzkopfs wurde breiter, gab den Blick auf eine
     Zahnlücke frei. Spielerisch drehte er die Waffe in seiner Hand.
    Dann ging alles blitzschnell.
    Er sprang vor. Das Messer schoss auf Vera zu.
    Ihr Unterarm prallte auf den des Angreifers.
    Vera drückte dagegen; mit der Kraft ihrer aufgestauten Wut versuchte
     sie, seinen Messerarm wegzuschieben.
    Natürlich war er stärker. Wie ein Stück Schaumgummi bog er ihren
     Ellbogen zur Seite.
    Das Messer fand freie Bahn.
    Er zog es über ihre Kehle, als pflügte er durch Butter.
    »Scheiße!« Vera stampfte auf. Wut leckte über ihre Wangen und ließ
     die Ohrläppchen pulsieren.
    Im Spiegel sah sie den dicken roten Strich, der ihren Hals zierte.
     Es war der fünfte.
    »Baby, du bist tot! Schaut nicht gut aus, ich hab dir schon wieder
     die Kehle durchgeschnitten. Kann es sein, dass du zu langsam bist?«, spottete
     der Glatzkopf.
    Sie hob die Brauen. »Das muss an deinem Wahnsinnscharme liegen. Der
     lähmt mich.«
    Endlich blätterte sein Dauergrinsen ab.
    Seit einer halben Stunde trainierte Vera die Abwehr eines
     Messerangriffs mit Korbinian. Der Anblick seiner feixenden Visage bescherte ihr
     eine juckende Kopfhaut. Doch es wollte ihr nicht gelingen, ihn zu entwaffnen.
     Entweder sie reagierte zu spät oder rutschte an seinen schweißnassen Unterarmen
     ab. Wieder und wieder hatte er es geschafft, ihr mit der Messerattrappe, einem
     roten Filzstift, einen Strich zu verpassen.
    Sifu Jochen legte seine schmale Hand auf Veras Schulter. »So geht
     das nicht. Nicht mit Kraft. Ein Muskelpaket wie ihn kannst du nicht wegdrücken.
     Er ist stärker als du, also gib nach.« Der Wing-Tsun-Trainer zwinkerte.
     Unzählige Fältchen entsprangen aus seinen Augenwinkeln und furchten die
     wettergegerbte Haut bis zu den Schläfen. »Dann leih dir seine Kraft aus und
     verwende sie gegen ihn.«
    Vera schluckte.
    »Und schau nicht auf das Messer, schau in seine Augen.«
    Der Sifu

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