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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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strich sich eine grau melierte Locke hinters Ohr. »Los,
     Korbi, greif Vera noch einmal an.«
    Korbinian zückte den roten Filzstift und stellte sich in Position.
     Er lächelte siegessicher.
    Angestrengt starrte Vera in seine wasserhellen Augen. Als sie sah,
     dass sich die Pupillen zusammenzogen, schoss ihre Linke vor. Sie blockte
     Korbinians Arm ab, während sie ihren Oberkörper zur Seite drehte, um seinem
     Vorwärtsdrall auszuweichen.
    Er verlor das Gleichgewicht und taumelte an Vera vorbei ins Leere.
     Wie von einer unsichtbaren Feder gespannt streckte sich ihre Rechte durch. Die
     Handfläche schlug gegen sein Schulterblatt.
    Der Glatzkopf fiel vornüber und landete auf seinen Knien. Er stöhnte
     auf. Der Filzstift entglitt ihm und rollte klappernd über den Parkettboden.
    »Prima! Genau so, dann kann dir keiner was.« Sifu Jochen reckte den
     Daumen hoch. »Das war beinahe prüfungsreif.«
    Hinter ihrem Lächeln fletschte Vera die Zähne. Eines nahm sie sich
     vor: Sollte tatsächlich jemand mit einem Messer auf sie losgehen, mit einem
     richtigen Messer, dann würde sie rennen. So schnell und so weit weg wie
     möglich.
    Die Nachmittagssonne fiel durch die Ritzen der Rollläden, und
     winzige Staubpartikel tanzten in ihren Strahlen.
    Sifu Jochen klatschte in die Hände. »Genug vom Zweikampf! Am Ende
     unserer Trainingseinheit üben wir alle noch die Formen. Stellt euch auf!«
    In drei Reihen gruppierten sich die Kampfkunstschüler vor der
     Spiegelwand, die Anfänger vorn, die Fortgeschrittenen hinten. Jeder für sich
     wiederholten sie eine Abfolge von stereotypen Armbewegungen und
     Schrittkombinationen. Es sah wie eine bizarre Pantomime aus. Obwohl etwa
     zwanzig Menschen angestrengt trainierten, hörte man nichts als das leise
     Schleifen der Ledersohlen über den Parkettboden, ein Geräusch, das Vera liebte.
    Aller Augen waren auf den Spiegel gerichtet, der gnadenlos jede
     Fehlhaltung aufzeigte. Die Gesichter sahen angespannt aus. Nur der chinesische
     Großmeister lächelte hohlwangig und gelassen aus seinem Bilderrahmen, als würde
     ihn die Verbissenheit seiner westlichen Schüler amüsieren.
    Sifu Jochen ging durch die Reihen, korrigierte hier eine
     Handhaltung, dort einen Schritt.
    Vera mochte das Meditative dieser Bewegungsmuster, seit sie mit Wing
     Tsun begonnen hatte. Damals war sie sechzehn gewesen. Ein schlaksiger, unsportlicher
     Teenager mit schlechter Haltung. Durch die chinesische Kampfkunst hatte sie ein
     gesundes Selbstbewusstsein und ein gutes Gefühl für ihren Körper entwickelt,
     aber auch das Bedürfnis, ihn zu kontrollieren.
    Normalerweise gelang es ihr, abzuschalten und sich ganz auf die
     automatisierten Bewegungsabläufe einzulassen. Nur heute war sie unkonzentriert.
     Ihre Gedanken kreisten um das Physiologiepraktikum und den alten Pfeifer,
     dieses Arschgesicht. Er hatte es tatsächlich geschafft, eine ihrer Kolleginnen
     mit gemeinen Fragen und sexistischen Bemerkungen derart in die Enge zu treiben,
     dass sie in Tränen ausgebrochen war. Daraufhin lachte er die Studentin aus.
     »Als Sie unlängst mit Ihrem Freund geknutscht haben, waren Sie nicht so
     zimperlich«, sagte er und starrte in den Ausschnitt der üppigen Blondine.
    »Nur kein Neid, Herr Professor«, rief Vera dazwischen. Der ganze
     Hörsaal hatte gelacht. Pfeifer hatte sie mit einem säuerlichen Lächeln
     gemustert, als müsste er sich ihr Gesicht einprägen. Für die nächste Prüfung.
     Und die war schon in zwei Wochen.
    Danach hatte sie ihren Ärger durch den Kauf von aberwitzig teuren,
     quietschgrünen High Heels beschwichtigen müssen. Jetzt besaß sie einen Feind
     und ein Paar Schuhe mehr. Und sie war endgültig pleite.
    Sifu Jochens Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »So, Leute, Schluss
     für heute.«
    Vera genoss das Prickeln des Wasserstrahls auf der Haut. Sie
     schrubbte ihren Hals mit Seife und einer Bürste, bis die roten Striche
     verblassten. Ganz ließen sie sich nicht entfernen.
    Als sie fertig angezogen war und auf ihren neuen Schuhen ein wenig
     schwankend das Trainingslokal verließ, waren die anderen längst gegangen.
    Im Korridor wartete der Sifu auf sie. Er wedelte mit einem
     Zahlschein. »Du hast deinen Monatsbeitrag noch nicht bezahlt.«
    Vera erschrak. »Oh Mist, das habe ich diesmal total vergessen.«
    »Diesmal?« Er lachte. »Du vergisst es fast immer. Mit einer
     Einzugsermächtigung würde das nicht passieren.«
    »Stimmt. Aber im Moment würde die nichts nützen.

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