Eiszeit in Bozen
schon
wieder eine Leiche. Sie ziehen die aber auch an wie Fliegen die … Na, Sie
wissen schon. Was haben wir denn da? Ah, ein Wasseropfer! Immerhin, das ist für
Sie ein Novum. Ich darf davon ausgehen, dass Sie nichts angefasst haben?«
Vincenzo schüttelte den Kopf. Es gab keine Situation, in der
Reiterer seinen schrägen Humor verlor. Gleichzeitig war er in seinem Job ein Perfektionist,
absolut zuverlässig, fachlich stets auf der Höhe und vor allem deshalb bei den
meisten Kollegen sehr geschätzt.
Der Commissario gab zurück: »Ich will Ihren Untersuchungen ja nicht
vorgreifen, Signor Reiterer, aber so clean, wie dieser Fundort ist, könnte ich
mir vorstellen, dass der Mensch nicht hier gestorben ist. Und einen natürlichen
Tod kann man sich angesichts des Fehlens jeglicher Kleidung schwer vorstellen.
Wer badet schon im Spätherbst nackt in der Talfer?«
Reiterer deutete ein Klatschen an. »Es gelingt Ihnen immer wieder,
mich zu überraschen, Bellini. Ihre Kombinationsgabe, alle Achtung! Dennoch, und
nehmen Sie das nicht persönlich, wenn der Tote da nicht erst seit heute hier
liegt, dann hätten allein die vielen Unwetter der letzten Tage die meisten
Spuren längst zunichtegemacht. Fahren Sie getrost in die Questura, ab hier
übernehmen wir. Sie können ruhig mitfahren, Ispettore.«
In der Questura angekommen, ging Vincenzo zunächst in sein Büro,
um Alfredo anzurufen. Er wollte unbedingt wissen, ob Gianna inzwischen in der
Kanzlei erschienen war. Das war nicht der Fall, sie war weiterhin wie vom
Erdboden verschluckt. Nachdenklich saß er an seinem Schreibtisch.
Hatte er doch etwas Falsches zu ihr gesagt? Euphorisiert von ihrem
herrlichen Tag am Auener Joch hatte er abends Unmengen Wein und Grappa
getrunken, so viel, dass er am Sonntagmorgen sogar einen kleinen Filmriss
hatte. Das war ungewöhnlich für ihn. Manchmal neigte man dazu, im Rausch Dinge
zu sagen, die man sonst tunlichst für sich behielt. Andererseits hätte ihm
Gianna das spätestens nach dem Aufwachen um die Ohren gehauen. Stattdessen
hatte sie sich sofort bei ihm angekuschelt und ihm die schönsten Komplimente
ins Ohr gehaucht. Nein, das konnte nicht der Grund für ihr Verschwinden sein.
Er konnte nur abwarten.
Um sich von seiner Angst um Gianna abzulenken, musste er alle
Energien auf die Ermittlung um den Talfertoten richten, von dem er inzwischen
wusste, dass es sich um einen Mann handelte. Der nächste Schritt war, zu
Baroncini zu gehen und das weitere Vorgehen mit ihm abzusprechen.
Auf dem Weg ins oberste Stockwerk kam ihm Paolo Verdi entgegen, er
wedelte mit einem großen Umschlag. »Ich wollte gerade zu dir, Vincenzo. Das ist
am Empfang für dich abgegeben worden.«
Vincenzo blickte irritiert auf den weißen DIN-A 5-Umschlag,
auf dem keine Adresse stand. »Von wem ist das?«
»Keine Ahnung. Ein Junge hat ihn für dich abgegeben. Ehe ich was
sagen konnte, war er verschwunden.«
»Merkwürdige Sache. Zeig her … Nein, bitte leg ihn auf meinen
Schreibtisch. Ich muss zu Baroncini, ich bin spät dran. Ich sehe mir das
nachher an.«
Baroncini wartete in der Tat bereits ungeduldig zusammen mit
Ispettore Guiseppe Marzoli, der ihm schweigend gegenübersaß. »Mensch, Bellini,
wo bleiben Sie denn so lange? Habe ich nicht ausdrücklich gesagt, dass Sie
sofort zu mir kommen sollen, wenn Sie zurück sind?«
»Entschuldigen Sie, Vice-Questore, ich wollte noch einen dringenden
Anruf erledigen.«
Baroncini war kein Mann, der fadenscheinige Ausreden duldete.
»Bellini, wir haben einen Toten. Der ist mit Sicherheit nicht freiwillig nackt
in die Talfer gesprungen. Welches Telefonat sollte da wichtiger sein?«
Vincenzo druckste verlegen herum. Er wollte seinen Vorgesetzten
nicht mit privaten Problemen behelligen.
»Seine Freundin ist verschwunden.«
Baroncini richtete sich auf. »Was sagen Sie da, Ispettore?« Marzoli
sah seinen Kollegen schuldbewusst an. Irgendjemand musste es schließlich
aussprechen.
Vincenzo seufzte. »Es stimmt, wir vermissen Gianna seit ein paar
Tagen. Ich habe gerade mit meinem Schwiegervater in spe gesprochen und
erfahren, dass sie auch heute nicht in die Kanzlei gekommen ist. Aber bitte
verzeihen Sie, das ist tatsächlich mein privates Problem. Sie müssen sich damit
wirklich nicht beschäftigen.« Er bedachte Marzoli mit einem vorwurfsvollen
Blick, unter dem sich der Ispettore regelrecht wegduckte.
Baroncini rieb nachdenklich seinen gepflegten, kurzen Bart, sah zu
Marzoli, der den Kopf beschämt gesenkt hielt,
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