Eiszeit in Bozen
hast auch deine zweite Aufgabe mit Bravour gemeistert. Aber
anstatt dich zu freuen, meckerst du mich an, unterstellst mir, ich hätte
irgendwelche Fotos gemacht. Was ist bloß los mit dir? Warst du schon früher so
labil? Als ich die »Dolomiten« gelesen habe, habe ich mich von Herzen für dich
gefreut. Vier Punkte hättest du haben können, Vincenzo, vier! Ich glaube, du
musst noch eine Menge lernen. Bedenke, dass du kaum Zeit hast. Wenn wir unseren
Plan halbwegs einhalten, sind wir nämlich in gut einer Woche am Ende des Spiels
angelangt! Na ja, vielleicht dauert es auch zwei Wochen, weil es so viel Spaß
macht.
Bevor wir uns dem dritten Spielzug zuwenden,
notiere ich unseren Zwischenstand:
Vincenzo Bellini: vier Punkte, null Strafen
Spielführer: ein Punkt (kann keine Strafen
bekommen)
Du führst, mein geschätzter Freund. Aber
hoffentlich trauerst du dem heute vergebenen Punkt nicht irgendwann nach, denn
mit der Schwierigkeit der Aufgaben nimmt die Zahl der zu vergebenden Punkte zu.
Und die Wahrscheinlichkeit einer Strafe wächst. Doch nun zu deinem nächsten
Zug, den du bitte bis übermorgen, also Donnerstag, ausführst. Auch diesmal wäre
eine entsprechende Erwähnung in der »Dolomiten« wünschenswert, aber es muss
nicht so reißerisch sein. Eine Randnotiz wäre regelkonform.
Deine Eltern betreiben sehr erfolgreich ihre
Trattoria. Zu Recht, muss ich sagen. Ich habe vor Kurzem dort gespeist,
absolute Spitze, Respekt! Die Teciada di Cape, dazu eine Flasche von diesem
sagenhaften Terlaner Tannhammer, und das auch noch bezahlbar – das gibt es
nicht oft. Nicht, dass ich viel davon verstehe, aber es hat superb
gemundet.Genau da liegt mein Problem. Ich finde, deine Eltern betreiben einen
regelrechten Verdrängungswettbewerb. Solch eine Auswahl und Qualität zu
derartig günstigen Preisen, diese exquisite Weinkarte, das ist unfair den
anderen Wirten gegenüber.
Unser Spiel sieht vor, dass du für einen
kleinen Ausgleich sorgst. Du wirst den Hygienedienst sowie deinen Intimus, den
Reporter, morgen als Erstes darüber informieren, dass du auf dem Weg zu den
Toiletten einen Blick in die Küche werfen konntest. Dabei hast du gesehen, dass
Essensreste aus dem Mülleimer quellen, meinst, sogar eine Ratte gesichtet zu
haben. Kurz nach dem Essen musstest du dich übergeben. Du hattest den Eindruck,
dass es anderen Gästen ähnlich ging. Am besten wäre es, es hätte auch deinen
pummeligen Kollegen getroffen, das würde den Hygienedienst bestimmt überzeugen.
Ich meine, zwei Staatsbedienstete, denen schlecht wird, das ist mehr als
glaubwürdig. Das ist für mich Wettbewerbskontrolle im besten Sinne. Das siehst
du zweifellos genauso, bei deinem legendären Gerechtigkeitsempfinden.
Lese ich übermorgen eine entsprechende und
eindeutige Notiz in der »Dolomiten« und kann mich bei
Beobachtungen vor Ort davon überzeugen, dass der Hygienedienst tatsächlich
anrückt, bekommst du sagenhafte sechs Punkte, Vincenzo! Damit ziehst du fast
uneinholbar von dannen. Solltest du allerdings scheitern, wäre ich sehr
enttäuscht. Du weißt, unser Spiel soll meine Bewunderung für dich zum Ausdruck
bringen. Im Falle deines Versagens bekommt der Spielführer zehn Punkte, du eine
Strafe. Wie die aussieht, wird kurzfristig entschieden.
Noch etwas. Du weißt, wie stressig der Job
des Spielführers ist, permanent ist man unter Termindruck. Ich muss sorgfältig
planen. Sorge bitte dafür, dass der Hygienedienst morgen pünktlich um achtzehn
Uhr anrückt. Das kriegst du als Commissario bestimmt hin, oder?
Lauf deine Runde, Sportsfreund, das tut dir
gut!
Dein Freund für die Ewigkeit
Minutenlang starrte Vincenzo auf das Blatt Papier in seiner
Hand. Wieder einmal überkam ihn das Gefühl, sich in einem surrealen Traum zu
befinden. Er war wie gelähmt. Wie sollte er das machen? Seine Eltern
diffamieren, seine eigenen Eltern? Die Trattoria war ihr Lebenswerk, ihre Altersversorgung.
Jahrelang hatten sie hart darauf hingearbeitet, der Erfolg war ihnen nicht in
den Schoß gefallen. Es gab viel Konkurrenz. Es war eine große Leistung, dass
sie sich von den anderen abhoben, etwas, was sie vor allem Antonias Kochkünsten
verdankten und ihrer Bereitschaft, neue Wege zu gehen wie die Aufnahme der
ladinischen Küche in die Speisekarte oder die Südtiroler Themenabende.
Ausgerechnet ihr eigener Sohn sollte dafür sorgen, dass die Trattoria in Verruf
geriet? Ein solcher Sadismus überstieg alles, was Vincenzo in seinen kühnsten
Phantasien erwartet
Weitere Kostenlose Bücher