Eiszeit in Bozen
einen Menschen in einem solchen Versteck zu
finden, und Vincenzo konnte gar nichts dafür.
Gerade als sie Teewasser aufsetzen wollte, hörte sie das vertraute,
hallende Geräusch seiner Schritte im Eis. Sie verspürte augenblicklich
Erleichterung, wenngleich auch eine gewisse Unsicherheit. Er kam direkt auf sie
zu. Wieder trug er die Maske, hatte den großen Rucksack dabei. Groß war er,
breitschultrig. Selbst in diesem Eisdom hatte er eine imposante Ausstrahlung.
Zwei Meter vor ihr blieb er stehen, sah sie einen Moment schweigend an.
Schließlich stellte er den Rucksack vor sich ab. »Ich habe Ihnen Lebensmittel
mitgebracht, ein paar Zeitschriften und Bier. Brauchen Sie sonst noch was?«
Wollte er sie etwa schon wieder allein lassen? Das durfte nicht
sein! »Können Sie nicht eine Weile bleiben? Alleine dreht man in dieser Einöde
zwangsläufig durch. Ich wollte gerade Teewasser aufsetzen.«
Wie zuvor sah er sie einen Augenblick durch seine Maske hindurch an,
ehe er antwortete. »Ich muss einen exakten Zeitplan einhalten. Der sieht leider
keinen Smalltalk vor.« Seine Stimme war trotz der Abfuhr sanft, fast melodisch.
»Wenn es um Geld geht, brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.
Meine Eltern werden alle Forderungen erfüllen!« Er sagte nichts, schaute sie
nur an. »Außerdem ist mein Freund Commissario in Bozen. Sie können sich an ihn
wenden. Ihm geht es darum, dass ich zurückkomme, nicht darum, Sie zu fassen.«
In seinen Augen glaubte sie so etwas wie Spott zu erkennen. »Sie
glauben allen Ernstes, Ihr Freund würde Ihnen helfen?«
Sie starrte ihn entgeistert an. »Was soll das heißen?«, stotterte
sie. Wieder kam keine Antwort. »Bitte, können Sie mir wenigstens sagen, wie
lange ich hierbleiben muss?«
Er schien unschlüssig, ob er darauf antworten sollte, dann zeigte er
sich gnädig. »Vermutlich ein paar Tage. Ist eine Frage der Organisation, es
kommt darauf an, wie kooperativ Ihre Angehörigen sind und ob die Polizei
mitspielt. Wenn alles glatt läuft, bringe ich Sie unversehrt in Ihre heile Welt
zurück.«
Wenn alles glatt läuft? »Und wenn nicht?« Er blieb stumm, Gianna
bekam Gänsehaut. »Hören Sie, wenn es Probleme gibt, kann ich selbst Ihnen das
Geld besorgen. Dafür brauchen wir die Polizei nicht!«
Schweigend öffnete er den Rucksack, legte Proviant und Zeitschriften
auf das Eis. Er sagte bestimmt so wenig, um sie zu schützen. Sie sollte nicht
zu einer für ihn gefährlichen Zeugin werden.
Er durfte auf keinen Fall gehen. »Vorhin ist ein riesiger Eisbrocken
in den See gestürzt. Was mache ich, wenn das über meinem Zelt passiert?«
Er erhob sich, schnallte den leeren Rucksack auf den Rücken. Seine
Augen ließen ein Lächeln vermuten. »Keine Angst, ich kenne mich im Eis aus. Ihr
Lager ist unter einem glatten Eisschirm. Da kann nichts abbrechen. Vertrauen
Sie mir, stellen Sie bitte nicht so viele Fragen. Ich muss los.« Ohne eine
Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand mit schnellen Schritten in
dem Eisgang, den Gianna für den Weg in die Freiheit gehalten hatte.
***
Questura
Ispettore Marzoli saß mit Sabine Mauracher in Vincenzos
Büro, seit einer halben Stunde warteten sie auf den Commissario. Bellini hatte
ihm ausdrücklich aufgetragen, Mauracher in die Ermittlungen mit einzubeziehen.
»Vielleicht können wir diesen frischen Wind gerade in so einer Krisensituation
gut gebrauchen«, hatte er gesagt.
Marzoli war sich noch unschlüssig, ob er seine angehende Kollegin
mochte. Sie war nett, unkompliziert, hatte aber ein loses Mundwerk, auch wenn
sie sich doch meistens an die Anweisungen ihrer Vorgesetzten hielt. Eines an
ihr konnte er allerdings partout nicht leiden: dass sie es tatsächlich wagte,
sich über seine Cantuccini herzumachen. Selbst Bellini hielt sich in seiner
Gegenwart vornehm zurück. Hatte sie denn niemand gewarnt, dass er für die
Dinger durchaus einen Mord begehen würde, erst recht, seit Barbara ihn auf Diät
hielt?
Während sie erneut zugriff, fragte sie beiläufig: »Wo bleibt der
Commissario so lange? Ob sich der Entführer wieder gemeldet hat?«
Marzoli griff ebenfalls in die Etagere und zog sie demonstrativ ein
Stück näher zu sich heran. »Das ist gut möglich. Er befindet sich in einer
Ausnahmesituation, der reinste Horror. Wir sollten ihn nicht mit Fragen
bestürmen. Am besten helfen wir ihm, indem wir unsere Arbeit machen.«
Mauracher war wie immer ungeschminkt und lässig gekleidet, mit
Sneakers, Jeans und einem schwarzen
Weitere Kostenlose Bücher