Eiszeit in Bozen
Buch
weiterschreiben, Frau Hofer. Außerdem muss ich gleich noch mal los, um das
überraschend gute Wetter für ein paar Fotos zu nutzen.«
Er gab ihr einen Korb. Erwartungsgemäß. Ein letzter Versuch.
»Schade, ich hätte zu gerne mehr gewusst über Ihre Bücher. Sie müssen wissen,
dass ich schon mal in der Schweiz war. Mich würde vor allem Ihr Buch über das
Wallis brennend interessieren. Waren Sie tatsächlich auf dem Matterhorn? Und
warum haben Sie keine Bilder von sich auf Ihrer Webseite?«
Für einen Augenblick war es still in der Leitung.
»Gewiss war ich auf dem Matterhorn, sonst hätte ich das Buch nicht
schreiben können. Das mit den Bildern … ich mag es überhaupt nicht, mich im
Netz zu präsentieren, Facebook und dergleichen sind mir ein Gräuel. Ich achte
peinlich genau darauf, dass ich nur das veröffentliche, was für meine Bücher
wichtig ist. Mein Aussehen gehört nicht dazu. Wissen Sie was? Ich nehme Ihr
Angebot doch gerne an. Lassen Sie mich heute Vormittag bitte in Ruhe schreiben.
Wäre es Ihnen recht, wenn ich am frühen Nachmittag rüberkäme?«
Ob ihr das recht war? Jede Sekunde mit diesem Mann war ein Geschenk.
Sie war zwar noch nie in der Schweiz gewesen – wie auch mit dem Hof? –, aber
sie brauchte irgendeinen Vorwand, um sein Interesse zu wecken. Gut gelaunt
setzte sie sich mit einem Milchkaffee und dem Brett mit ihren selbst gemachten
Hasenöhrl an ihren kleinen Esstisch. Sie blickte zu der alten Wanduhr aus
Eiche, ein Erbstück ihrer Mutter. Acht Uhr fünfundvierzig. In ein paar Stunden
würde ihr Herr Stadler gegenübersitzen. Zeit genug, die Wäsche zu machen,
gründlich aufzuräumen und zu putzen.
***
Sarnthein
Frustriert lenkte Vincenzo seinen Alfa durch das stille
Sarntal. Mittags hatte er seine Eltern besucht, um sich abzulenken. Es war
ihnen nicht gelungen, niemand und nichts konnte ihn trösten. Nicht einmal
Antonias Kochkünste oder Pieros Gespür für Topweine. Das Einzige, was sie ihm
geben konnten, war das Gefühl, dass er nicht allein war. Und er hatte noch
Hans, seine Kollegen, seine Freunde in Sarnthein.
Aber dieser fatale Mix aus Angst um Gianna, Ausgeliefertsein, Hass
und Machtlosigkeit hatte seinen eisernen Griff um ihn gelegt. Er konnte sich
nicht daraus befreien. Im Gegenteil, es kam ihm vor, als fräße die Verzweiflung
sich immer tiefer in seine Eingeweide. Eine Entführung, ein Mord – es wäre kein
Problem, Sondereinheiten anzufordern, die Carabinieri einzuschalten, alle
Kräfte auf diesen Fall zu bündeln. Doch damit würden sie Giannas Leben
gefährden. Eine klassische Zwickmühle.
Giannas Leben? Wie aus dem Nichts überfiel ihn Panik. Woher wusste
er eigentlich, dass Gianna noch lebte? Hatte das Schwein nicht nur eines im
Sinn, ihn zu demütigen, zu quälen? Vielleicht war es vollkommen egal, ob er all
die schwachsinnigen Aufgaben erfüllte oder nicht? Vielleicht stand der Ausgang
des Spiels, der finale Schachzug des Spielführers längst fest? Wenn er Gianna ohnehin töten würde, warum sollte er damit bis zum
Ende warten?
Auf Höhe der Forellenzucht fuhr Vincenzo rechts ran, stieg aus und stieß
einen lauten, einen irrsinnigen Schrei aus. Über die Wiesen hinweg, wo ihn nur
ein paar Kühe hören konnten, brüllte er: »Ich kriege dich, du Ratte! Du miese,
feige Ratte, ich kriege dich!« Er spürte jeden einzelnen Muskel in seinem
sportlichen, drahtigen Körper, spürte seine Angst, aber auch seine Kraft.
Doch das Gefühl hielt nicht an, auf einmal sackte er zusammen und
ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Wehmütig blickte er nach links, in den
Bergwald hinein, dachte an die Stoanernen Mandln. Wie sehr genoss er den
einzigartigen Ausblick in die Dolomiten, wenn er an den Steinfiguren
vorbeijoggte. Wie entspannend diese Momente waren, erhaben, friedlich. Und
jetzt?
Vincenzo fuhr los. Er brauchte einen klaren Kopf. Er nahm sich vor,
sofort eine Stunde intensiv Sport zu treiben, zu duschen, früh ins Bett zu
gehen. Doch Herr seiner Zeit war er schon lange nicht mehr.
Als er zu Hause den Briefkasten öffnete, fand er dort einen
Briefumschlag. Ihm war klar, von wem er war. Er schleppte sich die Treppe hoch,
warf den Umschlag auf den Esstisch, ging an den Kühlschrank, um sich ein Glas
Milch zu holen, widerstand dem Impuls, ein Bier zu nehmen. Mit zitternden
Händen öffnete Vincenzo den Umschlag, begann zu lesen. Mit jeder Zeile wuchs
seine Fassungslosigkeit.
Lieber Vincenzo,
heute hätte für uns beide ein Freudentag
werden können. Du
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