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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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hatte.
    Niemals! Das konnte dieser Hundesohn vergessen. Nicht mit ihm! Woher
wusste der eigentlich so viel über ihn? Wie von der Tarantel gestochen sprang
Vincenzo auf, warf den Brief auf den Tisch und rannte hinaus, wie er gekommen
war, in Jeans und Straßenschuhen. Er hechtete die steile Wiese hinauf und
hinunter, ohne irgendetwas um sich herum wahrzunehmen, warf sich auf den Boden,
machte so lange Liegestütze, bis er nicht mehr konnte. Danach war er nass
geschwitzt und vollkommen erschöpft. Er duschte ausgiebig. Der Endorphinschub
und das warme Wasser sorgten endlich für einen klareren Kopf. Während er sich
von seiner Regendusche berieseln ließ, schloss er die Augen und dachte nach.
    Er konnte die Aufgabe nicht verweigern. Das konnte für Gianna das
Todesurteil bedeuten. Seine eigenen Eltern anschwärzen, das war ebenso
undenkbar. Es war eine ausweglose Situation. Genau das wollte der Spielführer mit seinem Spiel, das Zug um Zug perfider
wurde, auch erreichen.
    Vincenzo musste sich eine Strategie zurechtlegen, mit der er seinen
Liebsten nicht schadete. Hoffentlich lag Hans mit seinen Vermutungen richtig.
Sie waren die einzige echte Spur. Nur wenn Hans Gianna fand, konnte Vincenzo
das abartige Spiel beenden und alle Polizeikräfte auf den Fall bündeln.

15
    Im Gletscher, Mittwoch, 13. Oktober
    Mit einem Knall löste sich ein größerer Eisblock von der
Decke und fiel mit lautem Getöse in den kleinen See. Das Wasser schwappte fast
bis zu ihrem Zelt. Noch kurz zuvor wäre sie in Panik verfallen, hätte
Todesängste ausgestanden, jetzt blieb sie ruhig. Dieser Eisabbruch machte ihr
zwar durchaus Sorgen, denn wenn das Eis über dem See abbrach, warum dann nicht
auch über ihrem Kopf?
    Aber die Panik der Anfangszeit war verschwunden. Das hatte auch mit
ihm zu tun, seiner sanften, beruhigenden Art, mit der er ihr deutlich machte,
dass er ihr nichts antun würde. Hatte sie anfangs ihm gegenüber nichts als
Ablehnung, Angst und Hass empfunden, so waren diese Gefühle inzwischen einer
seltsamen Form von Dankbarkeit gewichen. Mit jedem seiner Besuche verloren die
unheimlichen Geräusche und merkwürdigen Farbenspiele mehr von ihrer Bedrohung.
Gianna hatte sich an ihre bizarre Umgebung gewöhnt. Auch die Kälte setzte ihr
weniger zu. Der Mann hatte ihr erstklassige Ausrüstung zur Verfügung gestellt.
Außerdem war es wahrscheinlich gar nicht so kalt, wie es ihr vorkam. Sie
erinnerte sich, dass Vincenzo ihr vor einiger Zeit erklärt hatte, im Schnee und
in einem Gletscher liege die Temperatur nur wenig unter null Grad. Deshalb
könne man sich gut gegen Schneestürme schützen, indem man sich im Schnee
eingrub.
    Wenn Vincenzo nur hier wäre, jetzt könnte sie ihn brauchen! Sie
hatte lange über ihren Entführer nachgedacht. Eins war klar: Es musste um Geld
gehen. Ihre Eltern waren wohlhabend, ein Lösegeld von einer Million oder mehr
aufzutreiben, wäre kein Problem für sie. Sie würden bezahlen. Aber warum
dauerte es so lange?
    Oder kam ihr das nur so vor? Wahrscheinlich steckte die Polizei
hinter der Verzögerung. Bestimmt versuchten sie, den Entführer hinzuhalten, um
ihn zu fassen. Hatte er das Geld, bestand die Gefahr, dass ihm die Flucht
gelang.
    Unfassbar. Ihr eigener Freund war Commissario, unternahm aber
offenbar nichts, um sie zu finden. Leitete er die Ermittlungen so, wie er es in
der Polizeischule gelernt hatte? Oder hatte man ihn von dem Fall entbunden,
weil er persönlich involviert war? Aber würde er in diesem Fall nicht erst
recht versuchen, sie zu finden, auf eigene Faust? Er war Bergsteiger, Skifahrer,
er kannte sich aus. So viele Eishöhlen konnte es in diesem kleinen Südtirol
doch gar nicht geben!
    Ihr Entführer war freundlich, er behandelte sie gut und zeichnete
sich durch ein überdurchschnittliches Sprachniveau aus. Das war kein Prolet.
Und er musste Extrembergsportler sein, sonst hätte er sie nicht bis hierher
bringen können.
    Sie stellte sich vor, dass er wahrscheinlich ein ganz normales Leben
geführt hatte, mit Beruf und Familie. Dann war etwas geschehen, das ihn aus der
Bahn geworfen hatte. Schulden vielleicht oder ein Schicksalsschlag in der
Familie. Er hatte keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich auf diese Weise
das nötige Geld zu beschaffen. Er wollte seiner Geisel nichts antun, sonst
würde er kaum freiwillig diese Sturmmaske tragen. Andererseits: Wäre es für ihn
nicht ein Kinderspiel, sie einfach in dieser Hölle verrecken zu lassen?
Vielleicht war es doch unmöglich,

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