Eiszeit
Sonderfonds der UNO.
Um drei Uhr am Freitagnachmittag hielt Harry eine Rede vor einer Handvoll Geophysiker und Meteorologen, die sich für seine Studien über die Arktis interessierten. Er sprach eine halbe Stunde lang in einem kleinen Raum im Zwischenstock des Hotels. Als er schließlich zum Schluß gekommen war, steckte er seine Notizen ein und erklärte sich wie üblich bereit, weitere Fragen zu beantworten.
Während der zweiten Hälfte des Vortrags überraschte und bezauberte ihn eine junge und wunderschöne Frau, die mehr intelligente, scharfsinnige Fragen stellte als irgendeiner der zwanzig wichtigen, grauhaarigen Eminenzen im Raum. Sie sah aus, als wäre sie die Tochter irischer und italienischer Eltern. Ihr bernstein-olivfarbenes Gesicht strahlte Wärme aus. Breiter Mund, volle Lippen: sehr italienisch. Aber auch der irische Einschlag zeigte sich in ihrem Mund, denn sie hatte ein merkwürdiges, einseitiges Lächeln, das sie wie eine kleine Elfe wirken ließ. Ihre Augen waren vom klaren irischen Grün — aber mandelförmig. Langes, glänzendes kastanienbraunes Haar. In einer Gruppe, die sich vorwiegend für leichte Frühlingsanzüge aus Tweed und schlichte Kleider entschieden hatte, fiel sie mit braunen Kordjeans und einem dunkelblauen Pulli auf, einer Kleidung, die ihre aufregende Figur betonte. Aber es war ihr Verstand — schnell, neugierig, gut unterrichtet, gut ausgebildet — der Harry am meisten faszinierte. Später wurde ihm klar, daß er die anderen Anwesenden wahrscheinlich brüskiert hatte, indem er ihr soviel Zeit gewidmet hatte.
Nach dem Ende der Fragestunde ging er zu ihr, bevor sie den Raum verlassen konnte. »Ich wollte Ihnen danken, weil Sie diese Sitzung interessanter gemacht haben, als sie es sonst gewesen wäre, aber ich kenne nicht mal Ihren Namen.«
Sie lächelte schief. »Rita Marzano.«
»Marzano. Ich habe mir schon gedacht, daß Sie halb wie eine Italienerin und halb wie eine Irin aussehen.«
»Eigentlich bin ich Engländerin.« Ihr Lächeln verwandelte sich in ein volles, wenn auch schiefes Grinsen. »Mein Vater war Italiener, aber ich bin in London aufgewachsen.«
»Marzano ... das kommt mir bekannt vor. Ja, natürlich, Sie haben ein Buch geschrieben, oder? Der Titel...«
» Das Morgen verändern. «
Das Morgen verändern war ein populärwissenschaftliches Buch, eine Studie der Zukunft der Menschheit, basierend auf aktuellen Entdeckungen in der Genetik, Biochemie und Physik. Es war in den Vereinigten Staaten veröffentlicht worden und hatte einiges Aufsehen erregt.
»Haben Sie es gelesen?« fragte sie.
»Nein«, gestand er.
»Mein englischer Verleger hat vierhundert Exemplare zur Konferenz nach Paris geschickt. Sie werden an einem Stand an der Lobby angeboten.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich werde jetzt zu einer Signierstunde dort erwartet. Wenn Sie gern ein signiertes Exemplar hätten, werde ich Sie nicht in der Schlange warten lassen.«
An diesem Abend konnte er das Buch nicht beiseite legen, bis er um drei Uhr morgens die letzte Seite umgeblättert hatte. Ihre Methoden faszinierten ihn — die Art und Weise, wie sie die Fakten ordnete, ihre unkonventionelle, aber logische Annäherung an Probleme —, weil sie seinen eigenen Gedankengängen verblüffend ähnelten. Er hatte fast den Eindruck, ein Buch gelesen zu haben, das er selbst geschrieben hatte.
Er verschlief die meisten Vorlesungen am Samstagmorgen und verbrachte den Großteil des Nachmittags damit, Rita zu suchen, konnte sie aber nicht finden. Wenn er sie nicht suchte, dachte er an sie. Als er sich duschte und für die Gala an diesem Abend ankleidete, wurde ihm klar, daß er sich an kein einziges Wort der einen Vorlesung erinnern konnte, die er besucht hatte.
Zum erstenmal in seinem Leben fragte Harry Carpenter sich, wie es wohl sein mochte, ein geregeltes Leben zu führen und die Zukunft mit einer Frau an der Seite zu teilen. Er war, was viele Frauen einen ›guten Fang‹ nennen würden: fast einsachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, angenehm, wenn auch nicht stattlich aussehend, mit grauen Augen und aristokratischen Gesichtszügen. Aber er hatte nie ›ein guter Fang‹ sein wollen. Er hatte immer eine ihm gleichberechtigte Frau gewollt, die sich weder an ihn klammerte, noch ihn dominierte, eine Frau, mit der er seine Arbeit und Hoffnungen und Ideen teilen und von der er ein Feedback bekommen würde, das ihn interessierte. Er war der Ansicht, sie nun vielleicht gefunden zu
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