Eiszeit
sie waren, ganz gleich, wie prekär ihre Lage sein mochte. »Kann ein Schiff von dieser Größe hundertfünfzig Kilometer oder tiefer in einen so schlimmen Sturm fahren«, sagte Harry, »ohne in Stücke gerissen zu werden?«
»Ich halte die beiden Kapitäne für mutig — aber nicht für Selbstmörder«, sagte Gunvald geradeheraus.
Harry stimmte dieser Einschätzung zu.
»Sie werden irgendwann zur Umkehr gezwungen sein«, sagte Gunvald.
Harry seufzte. »Ja. Sie werden keine andere Wahl haben. Na schön, Gunvald, ich melde mich in fünfzehn Minuten wieder. Wir müssen uns hier beraten. Vielleicht fällt uns ja etwas ein.«
»Ich warte.«
Harry legte das Mikrofon auf das Funkgerät. Er erhob sich und sah die anderen an. »Ihr habt es gehört.«
Alle in der Eishöhle sahen entweder Harry oder das nun stumme Funkgerät an. Pete, Roger und Franz standen neben dem Eingang; sie hatten die Brillen schon zurechtgeschoben, um hinauszugehen und die Trümmer des vorübergehenden Lagers zu durchsuchen. Brian Dougherty hatte eine Karte der Grönland-See und des Nordatlantiks studiert; aber als er Gunvald gehört hatte, hatte er eingesehen, daß es sinnlos war, die Position der Trawler zu bestimmen, und hatte die Karte wieder zusammengefaltet. Bevor Harry die Station Edgeway angefunkt hatte, war George Lin von einem Ende der Höhle zum anderen auf und ab geschritten, um seine gequetschten Muskeln zu beanspruchen und auf diese Weise eine Versteifung zu verhindern. Nun stand er bewegungslos da und blinzelte nicht mal, als wäre er lebendig gefroren und erstarrt. Rita und Claude knieten auf dem Boden der Höhle, um eine Bestandsaufnahme des Inhalts eines Kartons mit Nahrungsmitteln vorzunehmen, der von der zusammenbrechenden Eiswand schwer beschädigt worden war. Harry kamen sie einen Augenblick lang nicht wie echte Menschen vor, sondern wie leblose Puppen in einem seltsamen Schaufenster — vielleicht, weil sie, wenn sie nicht gewaltiges Glück hatten, schon so gut wie tot waren.
Rita sagte, was sie alle dachten, aber kein anderer auszusprechen wagte: »Selbst wenn die Trawler uns erreichen könnten, würden sie frühestens morgen hier sein. Sie können es auf keinen Fall schaffen, uns vor Mitternacht an Bord zu nehmen. Und um Mitternacht explodieren alle Bomben.«
»Wir kennen weder die Größe noch die Form des Eisbergs«, sagte Fischer. »Die meisten Sprengladungen könnten sich in Schächten befinden, die sich noch auf der Eishülle befinden.«
Pete Johnson schüttelte den Kopf. »Claude, Harry und ich befanden uns am Ende der Bombenlinie, als der erste Tsunami unter uns hinwegglitt. Ich glaube, wir sind auf ziemlich direktem Weg zurück zum Lager gefahren, auf demselben Weg, auf dem wir hinausgefahren sind. Also müssen wir direkt an allen sechzig Sprengladungen vorbeigefahren sein. Und ich wette meinen rechten Arm darauf, daß dieser Eisberg auf keinen Fall groß genug ist, um all diese Erschütterungen überstehen zu können.«
Nach einem kurzen Schweigen räusperte sich Brian. »Du meinst, der Eisberg wird in tausend Stücke zerbrechen?«
Niemand antwortete.
»Also werden wir alle umkommen? Oder ins Meer stürzen?«
»Das ist ein und dasselbe«, sagte Roger Breskin nüchtern. Sein Baß hallte hohl von den Eiswällen wider. »Die See friert zu. Du würdest keine fünf Minuten darin überleben.«
»Können wir denn gar nichts tun, um uns zu retten?« fragte Brian, während sein Blick von einem Mitglied des Teams zum anderen wanderte. »Sicher können wir doch irgend etwas tun.«
Während des Gesprächs war George Lin so bewegungslos und still wie eine Statue gewesen, doch plötzlich drehte er sich um und machte drei schnelle Schritte auf Dougherty zu. »Hast du Angst, Junge? Du solltest Angst haben. Deine allmächtige Familie kann dich hier nicht raushauen!«
Erschrocken trat Brian einen Schritt von dem wütenden Mann zurück.
Lin ballte die hinabhängenden Hände zu Fäusten. »Wie gefällt es dir, hilflos zu sein?« Er schrie mittlerweile. »Wie gefällt dir das? Deine große, reiche, politisch mächtige Familie bedeutet hier draußen gar nichts! Jetzt weißt du, wie es für den Rest von uns ist, für uns kleine Leute. Jetzt mußt du dich ins Zeug legen, um dich selbst zu retten. Genau wie wir anderen.«
»Das reicht«, sagte Harry.
Lin drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht war vor Haß verzerrt. »Seine Familie hockt da mit all ihrem Geld und all ihren Privilegien, völlig isoliert von der Wirklichkeit,
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