Eiszeit
irgendeine Vermutung?« fragte Pete. »Sollten wir auf irgendjemanden genauer acht geben als auf die anderen?«
»Diese Frage hätte ich dir stellen sollen. Ich weiß bereits, was Rita, Brian und ich denken. Ich brauche eine neue Perspektive.«
Pete mußte nicht lange über die Frage nachdenken, um eine Antwort zu finden. »George Lin«, sagte er sofort.
»Das war auch meine erste Wahl.«
»Nicht die erste und die letzte? Du bist der Ansicht, er ist ein zu offensichtlicher Verdächtiger?«
»Vielleicht. Aber das schließt ihn noch lange nicht aus.«
»Was ist überhaupt los mit ihm? Ich meine, wie er sich Brian gegenüber benimmt, dieser Zorn — was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Harry. »Irgendetwas ist ihm in China zugestoßen, als er noch ein sehr kleines Kind war. Es muß in den letzten Tagen von Tschiangs Herrschaft passiert sein, irgendein traumatisches Erlebnis. Er scheint Brian wegen der Politik von dessen Familie damit in Verbindung zu bringen.«
»Und unter dem Druck, dem wir in den letzten neun Stunden ausgesetzt waren, ist er zusammengebrochen.«
»Das wäre immerhin möglich.«
Sie dachten darüber nach.
Pete Johnson trabte auf der Stelle, um seine Füße warm zu halten. Harry folgte seinem Beispiel.
»Was ist mit Franz Fischer?« fragte Pete, nachdem sie sich vielleicht eine Minute lang auf diese Weise bewegt hatten.
»Was soll mit ihm sein?«
»Er ist dir gegenüber sehr kühl. Und Rita gegenüber ebenfalls. Nein, ihr gegenüber ist er nicht gerade kühl, aber er sieht sie irgendwie immer so seltsam an ...«
»Du bist ein guter Beobachter.«
»Vielleicht ist es professionelle Eifersucht, wegen all der wissenschaftlichen Auszeichnungen, die ihr in den letzten paar Jahren aufgehäuft habt.«
»So kleingeistig ist er nicht.«
»Was dann? Oder geht mich das nichts an?« fügte Pete schnell hinzu, als Harry zögerte.
»Er hat sie damals gekannt.«
»Bevor sie dich geheiratet hat?«
»Ja. Sie waren ein Liebespaar.«
»Also ist er doch eifersüchtig, aber nicht auf die Auszeichnungen.«
»Ja, anscheinend.«
»Sie ist eine tolle Frau«, sagte Pete. »Keiner, der sie an dich verloren hätte, würde dich wohl für einen tollen Burschen halten. Ist dir nie in den Sinn gekommen, das sei Grund genug, Franz nicht in dieses Team zu holen?«
»Wenn Rita und ich diesen Teil der Vergangenheit hinter uns lassen konnten, müßte es ihm doch auch möglich sein.«
»Aber er ist weder Harry noch Rita, sondern ein ichbezogener wissenschaftlicher Trottel. Vielleicht sieht er ganz gut aus, ist klug und in mancher Hinsicht auch gebildet, aber im Prinzip ist er sehr unsicher. Wahrscheinlich hat er die Einladung, an der Expedition mitzuwirken, nur akzeptiert, damit Rita Gelegenheit bekommt, euch beide, dich und ihn, unter extremen Umständen miteinander zu vergleichen. Wahrscheinlich hat er gedacht, du würdest hier wie ein Tolpatsch über das Eis stolpern, während er sich als Nanuk des Nordens erweist, überlebensgroß, ein absoluter Macho im Vergleich zu dir. Doch schon am ersten Tag muß er begriffen haben, daß das so nicht klappen wird, und deshalb ist er so unausstehlich.«
»Das kommt mir nicht besonders logisch vor.«
»Mir schon.«
Harry blieb wieder stehen; er hatte Angst, sich zu sehr anzustrengen und in Schweiß auszubrechen. »Franz haßt mich vielleicht und eventuell sogar Rita, aber wie könnten die Gefühle, die er uns entgegenbringt, zu einem Angriff auf Brian führen?«
Nach einem Dutzend weiterer Schritte hörte auch Pete auf, weiter auf der Stelle zu treten. »Wer kann schon sagen, was im Verstand eines Psychopathen vor sich geht?«
Harry schüttelte den Kopf. »Franz könnte es trotzdem gewesen sein. Aber nicht, weil er auf mich eifersüchtig ist.«
»Breskin?«
»Der Mann ist mir ein Rätsel.«
»Er kommt mir zu verschlossen vor.«
»Wir neigen stets dazu, den Einzelgänger zu verdächtigen«, sagte Harry, »den Ruhigen, der für sich bleibt. Aber das ist nicht logischer, als Franz zu verdächtigen, nur weil er vor Jahren mal mit Rita zusammengelebt hat.«
»Warum ist Breskin aus den USA nach Kanada ausgewandert?«
»Keine Ahnung. Hat er das überhaupt je erzählt?«
»Könnte aus politischen Gründen gewesen sein«, sagte Pete.
»Ja, vielleicht. Aber Kanada und die USA haben im Prinzip eine ganz ähnliche Politik. Ich meine, wenn jemand seine Heimat verläßt und Bürger eines anderen Staates wird, sollte man doch meinen, daß er in
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