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Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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dreißig Metern Höhe, die sie auf der anderen Seite erwartete, doch er hatte keine andere Wahl. Die im Wind liegende Seite bot ihnen nicht die geringste Chance.
    »Und was machen wir, wenn wir auf der anderen Seite sind?« fragte Schukow.
    Gorow zögerte, dachte darüber nach. »Wir schießen ein Tau hinüber, setzen einen Mann über. Fahren eine Hosenboje aus.«
    »Ein Tau hinüberschießen?« Schukow war skeptisch. Er beugte sich hinüber, bis sein Gesicht fast das seines Kapitäns berührte, und schrie seine Zweifel hinaus. »Selbst wenn das klappt, selbst wenn es im Eis hält... ist das überhaupt möglich, wenn beide Objekte in Bewegung sind?«
    »Wenn wir verzweifelt genug sind, vielleicht. Ich weiß es nicht. Wir müssen es versuchen. Es ist immerhin ein Anfang.«
    Wenn man mit Hilfe einer Hosenboje Männer mit ausreichender Ausrüstung von dem U-Boot auf die Leeseite des Eisbergs übersetzen konnte, war es ihnen vielleicht möglich, ein Landeriff zu brechen, in dem die Schlauchboote dann anlegen konnten.
    Dann konnten sie vielleicht ein Tau zur Spitze des Eisbergs hinaufschießen. Und daran würden sie dann die Klippe so problemlos hinaufsteigen können, wie Fliegen auf Wänden krabbelten.
    Schukow sah auf seine Uhr. »Noch dreieinhalb Stunden!« übertönte er den Armageddon-Wind. »Wir fangen besser an.«
    »Die Brücke räumen!« befahl Gorow und löste Tauchalarm aus. Als er eine halbe Minute später den Kontrollraum betrat, rief der Maat gerade: »Alle Lampen grün!«
    Schukow und Semichastny waren bereits auf ihre Quartiere gegangen, um trockene Sachen anzuziehen.
    Als Gorow zur Leiter des Kommandoturms trat und dabei kleine Eiskrusten abwarf, drehte der Tauchoffizier sich zu ihm um. »Herr Kapitän?« sagte er.
    »Ich wechsle meine Kleidung. Gehen Sie auf fünfundsiebzig Fuß hinab und bringen Sie uns in den Windschatten des Eisbergs zurück.«
    »Jawohl, Herr Kapitän.«
    »Ich übernehme in zehn Minuten.«
    »Jawohl, Herr Kapitän.«
     
    Nachdem Gorow in seiner Kabine die durchnäßte und gefrorene Uniform durch eine neue ersetzt hatte, nahm er am Schreibtisch Platz und ergriff das Foto seines toten Sohnes. Alle auf dem Bild lächelten: der Akkordeonspieler, Gorow und Nikki. Der Junge lächelte am breitesten von ihnen — eine echte Regung, nicht für die Kamera gestellt. Er hielt die Hand seines Vaters fest. In der anderen Hand hielt er ein großes Hörnchen mit zwei Kugeln Vanilleeis, das auf seine Finger tropfte. Eiscreme bedeckte auch seine Oberlippe. Sein dichtes, vom Wind zerzaustes blondes Haar fiel über sein rechtes Auge. Selbst auf der flachen, zwei-dimensionalen Oberfläche des Fotos konnte man die Aura der Freude, Liebe und des Vergnügens wahrnehmen, die der Junge zeit seines Lebens ausgestrahlt hatte.
    »Ich schwöre, ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, murmelte Gorow dem Foto zu.
    Der Junge sah ihn lächelnd an.
    »Ich werde diese Leute vor Mitternacht von dem Eisberg holen.« Gorow erkannte seine Stimme kaum wieder. »Ich setze keine Attentäter und Saboteure mehr ans Ufer. Jetzt rette ich Menschenleben, Nikki. Ich weiß, daß ich es kann. Ich werde sie nicht sterben lassen. Das ist ein Versprechen.«
    Er drückte das Foto so fest, daß seine Finger bleich und blutleer wurden. Die Stille in der Kabine war bedrückend, denn sie war wie das Schweigen der anderen Welt, in die Nikki übergegangen war, wie das Schweigen verlorener Liebe, einer Zukunft, die nie geschehen würde, totgeborener Träume.
    Jemand ging pfeifend an Gorows Tür vorbei.
    Als wäre das Pfeifen ein Schlag ins Gesicht gewesen, zuckte der Kapitän zusammen und setzte sich aufrecht. Er fühlte sich erniedrigt. Sentimentalität würde ihm nicht helfen, seinen Verlust zu verkraften; Sentimentalität war eine Verfälschung des Erbes an guten Erinnerungen und Gelächter, das dieser ehrliche und gutherzige Junge hinterlassen hatte.
    Wütend auf sich selbst stellte Gorow das Foto zurück. Er stand auf und verließ die Kabine.
     
    Leutnant Timoschenko hatte in den vergangenen vier Stunden dienstfrei gehabt. Er hatte gegessen und zwei Stunden geschlafen. Nun, um 20 Uhr 45, fünfzehn Minuten zu früh, war er wieder ins Kommunikationszentrum zurückgekehrt, um die letzte Wache des Tages zu übernehmen, die um ein Uhr morgens enden würde. Einer seiner Untergebenen nahm hinter den Geräten Platz, während Timoschenko sich an einen Schreibtisch in der Ecke setzte, in einer Zeitschrift blätterte und aus einem

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