Eiszeit
komplette Tiefenlotung bis auf siebenhundert Fuß vor.«
Die Stimme, die aus dem Lautsprecher an der Decke kam, war klar und deutlich zu verstehen. »Führen volle Ortung durch, Herr Kapitän.«
Gorow schaute wieder ins Periskop.
Der Zweck der Ortung bestand darin, eine bedeutende Meeresströmung ausfindig zu machen, die stark genug war, um ein so großes Objekt wie den Eisberg zu beeinträchtigen. Mit Hilfe des Nahreichweitensonars, der Thermalsensoren, hochmoderner Lauschinstrumente und anderer Geräte waren die Techniker der Ilja Pogodin imstande, die Bewegungen sowohl warm- als auch kaltblütiger Formen des Meereslebens unter dem Schiff und auf all seinen Seiten nachzuvollziehen. Schulen kleiner Fische und Millionen und Abermillionen Krill, krabbenähnlicher Geschöpfe, von denen viele der größeren Fische lebten, wurden von den stärkeren Strömungen getrieben oder lebten sogar freiwillig in ihnen, besonders, wenn diese ozeanischen Autobahnen wärmer als das sie umgebende Wasser waren. Wenn beträchtliche Fisch- und Krillmassen — wie auch dicke Planktonschichten — sich in ein und dieselbe Richtung bewegten und man noch mehrere andere Faktoren mit der Bewegung in Beziehung bringen konnte, konnte man damit eine starke Strömung identifizieren, anschließend einen Strömungsmesser hinablassen und bekam damit zuverlässige Hinweise auf die Geschwindigkeit des Wassers.
Zwei Minuten nachdem Gorow die Ortung befohlen hatte, knisterte es wieder im Lautsprecher. »Starke Strömung gemessen, südliche Richtung, beginnt in einer Tiefe von dreihundertvierzig Fuß.«
Gorow wandte sich vom Periskop ab und zog wieder das Deckenmikrofon herunter. »Wie tief läuft sie unter dreihundertvierzig?«
»Kann ich nicht sagen, Herr Kapitän. Es wimmelt dort von Meeresleben. Wenn wir orten wollen, müssen wir wie durch eine Wand sehen. Wir haben allerdings Messungen von bis zu sechshundertsechzig Fuß, aber das ist noch nicht die tiefste Stelle.«
»Wie schnell bewegt sie sich?«
»Schätzungsweise neun Knoten, Herr Kapitän.«
Gorow erbleichte. »Wiederholen Sie.«
»Neun Knoten.«
»Unmöglich!«
»Erbarme dich unser«, sagte Schukow.
Gorow ließ das Mikrofon los, das von der Feder wieder an die Decke gezogen wurde, und kehrte mit einem neuen Gefühl der Dringlichkeit ans Periskop zurück. Sie waren im Weg eines Molochs. Die gewaltige Insel aus Eis hatte sich langsam und schwerfällig in die neue Strömung gedreht, doch nun war die volle Kraft des schnell fließenden Wassers genau hinter ihr. Der Berg drehte sich noch immer, brachte seinen ›Bug‹ herum, doch nun lag er größtenteils seitwärts zum U-Boot und würde diese Position mehrere Minuten lang beibehalten.
»Ziel kommt näher«, sagte der Radaroffizier. »Fünfhundert Meter.« Er las die Messung ab, die seine Instrumente anzeigten.
Bevor Gorow antworten konnte, erzitterte das Schiff plötzlich, als wäre es von der Hand eines Riesen ergriffen worden. Schukow stürzte. Papiere rutschten vom Kartentisch. Es dauerte nur zwei oder drei Sekunden, aber alle wurden durchgeschüttelt.
Schukow rappelte sich wieder auf. »Verdammt, was war das?« fragte er.
»Eine Kollision.«
»Womit?«
Der Eisberg war noch fünfhundert Meter entfernt.
»Wahrscheinlich mit einer kleinen Eisscholle«, sagte Gorow und forderte von allen Stationen des U-Boots Schadensberichte an.
Er wußte, daß sie nicht mit einem großen Objekt kollidiert waren, denn dann würden sie bereits sinken. Die Hülle des U-Boots war nicht gehärtet, denn um schnell durch die unterschiedlichen Temperatur- und Druckbereiche auf- und abtauchen zu können, war ein gewisses Maß an Flexibilität nötig. Dementsprechend würde jede einzelne Tonne Eis, wenn sie sich nur schnell genug bewegte, um eine beträchtliche Aufprallenergie zu haben, die Hülle durchbrechen, als handele es sich bei der Pogodin um ein Schiff aus Pappkarton. Womit auch immer sie zusammengestoßen waren, es konnte nicht besonders groß gewesen sein, mußte aber trotzdem zumindest geringere Schäden verursacht haben.
Der Sonaroffizier rief die Position des Eisbergs: »Vierhundertfünfzig Meter, kommt schnell näher.«
Gorow steckte in der Zwickmühle. Wenn er das Schiff nicht tauchen ließ, würden sie mit dem Eisberg kollidieren. Doch wenn er tauchen ließ, bevor er wußte, welche Schäden sie sich zugezogen hatten, würden sie vielleicht nicht mehr auftauchen können. Es blieb einfach nicht genug Zeit, das große Schiff zu drehen
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