Ekel / Leichensache Kollbeck
Frau im Rollstuhl nicht in seiner Begleitung ist.
Nach unruhigem Schlaf verläßt er in den frühen Morgenstunden des 4. November das Hotel und begibt sich zum gegenüberliegenden Bahnhof. Er nimmt den nächsten Zug nach Oberhof. Es dauert eine Zeitlang, bis er den Waldweg und später im Dickicht den ausgetretenen Pfad wiederfindet. Dann zwängt er sich durch das dichte Unterholz und sucht die kleine Lichtung, den Ort seiner gestrigen Untat. Er muß lange suchen, doch dann hat er Erfolg. Alles ist unverändert. Leblos liegt Martina auf dem Rücken, die Schlinge um den Hals. Neben ihr der zusammengeklappte Rollstuhl. Eine Zeitlang kauert Dieter vor der Toten, streichelt ihre kalten Wangen und weint. Als es zu nieseln beginnt, steht er auf und geht zu dem Baum, an dessen Stamm er gestern abend die Schlinge befestigt hatte. Nun zögert er nicht mehr. Aus der Manteltasche zieht er eine weitere, etwas kürzere Schnur und bindet ein Ende um das linke Handgelenk. Sodann umschnürt er mehrfach das rechte Handgelenk mit dem anderen Ende. Mit Hilfe der Zähne verknotet er die Schnur. Er will jede unbewußte Selbstrettungsreaktion verhindern, wenn sich der Strang zuzieht. Mit den gefesselten Händen legt er sich die Schlinge um den Hals. Dann sackt er in die Knie. Die Beine rutschen im feuchten Laub nach hinten weg. Halb kniend bleibt er in der Schlinge hängen. Nur einen Augenblick später verliert er das Bewußtsein. Dann ist er tot.
Als Hotelangestellte des „Erfurter Hofs“ am 6. November feststellen, daß Dieter Fredersdorf und Martina Baerwaldt seit zwei Tagen ihr gemietetes Zimmer nicht mehr benutzt haben, erstattet die Hotelleitung Anzeige bei der Volkspolizei. Mitarbeiter der Rezeption erinnern sich, Fredersdorf am frühen Morgen des 4. November gesehen zu haben, als er das Hotel verließ. Die Tatsache der schweren Behinderung Martinas ist genug Anlaß für schnelles polizeiliches Handeln, denn die kalte Witterung des Novembers fördert eine mögliche Gefährdung. Fredersdorfs Mutter in Weißenfels wird vernommen. Nun wird nicht nur bekannt, daß sie der Sohn vor seiner Reise nach Erfurt bestohlen hat, sondern auch, welch bizarre Scheinwelt er um sich errichtete. Sie spart nicht mit harscher Kritik an ihrem Einzigen, betont aber gleichzeitig, wie sehr er sich mit Martina verstanden habe.
Der Taxifahrer, der das Paar am 3. November von Arnstadt nach Oberhof fuhr, wird ausfindig gemacht. Auch die Hotelangestellten des Panoramahotels bestätigen die Anwesenheit der beiden: Man kann sich gut an die Dame im Rollstuhl und ihren Begleiter erinnern. Schließlich stößt die Kriminalpolizei auf Zeugen, die glaubhaft versichern, Fredersdorf am 3. November gegen 19.00 Uhr ohne seine Begleiterin in der Nähe des Oberhofer „Ernst-Thälmann-Hauses“ gesehen zu haben. Damit verliert sich jede weitere Spur. Die Suhler Kriminalpolizei schreibt mehr als 150 FDGB-Urlauber an, die sich über die Zeit des 3. November in Oberhof aufgehalten haben, und bittet um sachdienliche Hinweise. Die kriminalistische Ausbeute ist dennoch dürftig. Auch Presseinformationen und die Auslösung einer Eilfahndung führen nicht zum Erfolg, obwohl Hunderte von Hinweisen bei der Kriminalpolizei eingehen. Die aufgewühlte Volksseele reagiert empfindlich: Irrtümer, falsche Verdächtigungen, unhaltbare Spekulationen und ehrlich gemeinte Tips werden zum Gegenstand der Ermittlungen. Es ist erstaunlich, wo überall man den Gesuchten gesehen haben will. Das macht die Verwirrung komplett. Mühsam muß die Kriminalpolizei jedem Hinweis nachgehen, und jedesmal erlebt sie eine neue Enttäuschung. Doch von Fredersdorf findet sie nicht die geringste Spur.
Zeitgleich starten riesige Suchaktionen: Uniformierte und zivile Polizei, Jäger, Soldaten, Bergsteiger und viele Freiwillige durchkämmen die teilweise unwegsamen Gebiete zwischen Schmalkalden, Suhl, Ilmenau und Arnstadt. Der Wintereinbruch erschwert die Arbeit der Suchkräfte zusätzlich. Erst nach Wochen, während der fünften, stabsmäßig geführten Aktion werden die beiden Leichen gefunden.
Dieter Fredersdorf war eine psychopathische Persönlichkeit, egoistisch, eitel und in hohem Maße selbstunsicher. Die Bewältigung der Lebensanforderungen vollzog er weniger rationell als emotional. Vermutlich hatte die Hirnschädigung nicht nur die Bewegungsfähigkeit seiner Beine eingeschränkt, sondern auch die für kritisches Denken verantwortlichen Abschnitte des Kortex
.
Er hatte Verhaltenstrategien entwickelt,
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