Ekel / Leichensache Kollbeck
zugleich patriotische Mär: Seit Jahren wäre er als Kundschafter für den sowjetischen Geheimdienst tätig. Nun könne er sich aus den Tentakeln dieses gigantischen Schnüffelapparates nicht mehr befreien. Er gäbe Martina Recht mit ihrem Verdacht gegen ihn. Ja, er habe die Briefe und Urkunden selbst angefertigt. Doch nicht, um damit zu prahlen, sondern weil es nötig gewesen wäre, eine entsprechende Legende als Tarnung aufzubauen. Und morgen fände ein Treff mit einem Genossen statt, in einem Wald bei Oberhof. Diese Gelegenheit wolle er nutzen, um endgültig seine Beziehung mit dem Geheimdienst zu lösen, und sie, Martina, solle als Zeugin dabei sein. Obwohl Martina auch nicht im geringsten die Gepflogenheiten eines Geheimdienstes kennt, zweifelt sie doch an Dieters Schilderungen. Sie kann weder glauben, daß die Moskauer Geheimdienstler auf so einen wie Dieter angewiesen sind, noch kann sie sich damit abfinden, daß in diesen Kreisen solche naiven Indianerspielallüren herrschen sollen. Jetzt könnte sie Dieter viele Fragen stellen. Doch sie unterläßt es.
„Morgen will ich im Panoramahotel von Oberhof Kaffee trinken. Du kannst dich ja treffen, mit wem du willst“, meint sie kühl. Dann nutzt sie ihre innere Gelassenheit für die Mitteilung, die Freundschaft mit ihm beenden zu wollen. Eigentlich dürfte nach all dem Vorgefallenen diese Nachricht Dieter nicht überraschen, doch er ist über alle Maßen bestürzt: Er könne nicht ohne sie sein. Sie sei sein einziger Halt. Wenn sie ihr Vorhaben wahrmache, würde er sich umbringen.
Aber Martina bleibt hart. Für sie gäbe es kein Zurück. Seine ständigen Lügengeschichten wären unerträglich. Nein, sie sei zu tief enttäuscht.
Dieter fällt auf die Knie, umfaßt ihre Beine, die ohne Empfindung sind, heult wie ein kleines Kind.
„Laß mich nicht allein“, wimmert er hilflos.
Umsonst. Martina will hart bleiben.
Dieter schluchzt: „Bitte, versuch es noch mal mit mir!“ Der Mann mit dem nahezu beängstigenden Selbstbewußtsein ist zu einem Häuflein Verzweiflung zusammengeschrumpft. Und wie er so demütig vor ihr kniet und kläglich um ihre Gunst bettelt, hat sie plötzlich Mitleid mit ihm. Dies freilich, ohne von ihrem Entschluß zur Trennung abrücken zu wollen.
„Schlaf erst mal drüber, und morgen fahren wir nach Oberhof. Dann können wir ausführlich reden. In deiner jetzigen Verfassung bist du nicht in der Lage, sachlich zu diskutieren“, sagt sie bestimmend. Und Dieter nickt stumm, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
Später, als er sich etwas beruhigt hat, dringt er nochmals auf sie ein: „Ich habe nur eine Bitte: Du sollst dabei sein, wenn ich mich mit dem Mann treffe!“
„Na gut, wenn dir so viel daran liegt“, antwortet sie und sinnt darüber nach, ob sein Gehirn vielleicht irgendeine Krankheit ausbrütet und dabei wundersame Dinge produziert, die für ihn Realitätscharakter besitzen.
Mittwoch, der 3. November 1971. Ein kühler, aber freundlicher Tag. Dieter und Martina sind bereits am Morgen mit einem Bus nach Arnstadt gefahren, um von dort weiter nach Oberhof zu gelangen. Doch die Busfahrt ist für Martina zu beschwerlich. Sie entschließen sich deshalb, über Mittag in Arnstadt zu bleiben und dann mit einem Taxi nach Oberhof zu fahren. Dieter ist außergewöhnlich heiter, fast kindlich ausgelassen und besonders nett zu Martina. Auch sie bemüht sich, freundlich zu sein, zwingt Dieter immer wieder belanglose Gespräche auf, um vorsorglich von dem leidigen Thema abzulenken. Am Nachmittag winkt Dieter dann ein vorbeifahrendes Taxi heran. Während der Fahrer bereitwillig den Rollstuhl zusammenklappt und im Kofferraum verstaut, hebt Dieter Martina behutsam auf den Rücksitz des „Wolga“. Die Fahrt geht bis nach Oberhof, knapp 50 Kilometer entfernt. Am Ortseingang von Oberhof steigen sie aus, wollen den Rest des Weges kein Auto benutzen. Das leere Taxi fährt nach Arnstadt zurück.
Dieter lenkt den Rollstuhl artig durch die kleine, ruhige Ortschaft, in der sich wenige Wochen später Tausende von Wintersportlern tummeln werden. Jetzt begegnen den beiden nur wenige Urlauber aus den nahen FDGB-Ferienheimen.
Eine halbe Stunde später, es ist bereits 16.30 Uhr, sitzen sie im Panoramahotel. Martina ist zufrieden: Der Kaffee ist gut und der herrliche, weite Blick über das Thüringer Land entschädigt sie für die Strapazen des bisherigen Tages. Auch Dieter blickt versonnen in die Weite. Seit sie in Oberhof sind, ist er still und in
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