Elantris
war anders als alle vorherigen Verletzungen. Sie befand sich an seinem Schwertarm.
»Mylord ...«, setzte er an, wobei er Raodens Blick auswich.
»Was gibt es?«
»Wir haben heute einen weiteren Mann verloren. Wir haben sie kaum zurückhalten können. Und nun, ohne mich ... tja, es dürfte ziemlich schwierig werden, Mylord. Meine Jungs sind wackere Kämpfer, und sie sind gut ausgerüstet, aber wir werden unsere Stellungen nicht mehr viel länger halten können.«
Raoden nickte. »Ich werde mir etwas einfallen lassen.« Der Mann nickte hoffnungsvoll, und Raoden, der sich schuldig fühlte, fuhr fort: »Saolin, wie habt Ihr Euch eine solche Verwundung zugezogen? Bisher habe ich Shaors Männer immer nur mit Stöcken und Steinen kämpfen sehen.«
»Das ist jetzt anders, Mylord«, sagte Saolin. »Manche von ihnen haben jetzt Schwerter, und immer, wenn sie einen meiner Männer niedermetzeln, schleppen sie seine Waffen von dannen.«
Überrascht zog Raoden eine Braue empor. »Tatsächlich?«
»Ja, Mylord. Ist das von Bedeutung?«
»Allerdings. Es bedeutet, dass Shaors Männer nicht ganz so tierisch sind, wie sie uns weismachen wollen. Sie haben genug Verstand übrig, um sich den Umständen anzupassen. Wenigstens ein Teil ihrer Wildheit muss gespielt sein.«
»Zur Doloken, von wegen gespielt«, sagte Galladon mit einem verächtlichen Schnauben.
»Nun ja, vielleicht nicht gespielt«, räumte Raoden ein. »Sie verhalten sich so, weil es leichter ist, als sich den Schmerzen zu stellen. Aber wenn wir ihnen die Wahl geben, anders zu handeln, werden sie es möglicherweise tun.«
»Wir könnten sie einfach auf den Platz vorlassen, Mylord«, schlug Saolin zögernd vor. Er stieß ein leises Ächzen aus, als Karata ihre Arbeit beendete. Die Frau hatte Erfahrung. Ihren Gatten hatte sie getroffen, während sie bei einer kleinen Söldnertruppe als Krankenschwester gearbeitet hatte.
»Nein«, sagte Raoden. »Selbst wenn sie keinen der Adeligen töten, würden die Männer der elantrischen Stadtwache sie umbringen.«
»Liegt das nicht in unserem Interesse, Sule?«, wollte Galladon mit einem boshaften Glitzern in den Augen wissen.
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Raoden. »Ich glaube, Prinzessin Sarene hat noch einen anderen Grund für ihre Witwenprüfung. Sie schleppt jeden Tag andere Adelige an, als wolle sie, dass sie sich an Elantris gewöhnen.«
»Was sollte das nützen?«, mischte Karata sich zum ersten Mal in das Gespräch ein, während sie ihr Nähzeug verstaute.
»Ich weiß es nicht«, sagte Raoden. »Aber es ist ihr wichtig. Wenn Shaors Männer die Adeligen angriffen, würde das alles zunichte machen, was die Prinzessin erreichen möchte. Ich habe zwar versucht sie zu warnen, dass nicht alle Elantrier so sanftmütig sind wie diejenigen, die sie gesehen hat, aber ich möchte bezweifeln, dass sie mir Glauben geschenkt hat. Wir werden Shaors Männer wohl oder übel im Zaum halten müssen, bis Sarene fertig ist.«
»Und wann ist das?«, fragte Galladon.
»Das weiß Domi allein«, antwortete Raoden kopfschüttelnd.
»Sie will es mir nicht verraten. Jedes Mal, wenn ich etwas aus ihr herausbekommen möchte, wird sie misstrauisch.«
»Tja, Sule«, meinte Galladon mit einem Blick auf Saolins Arm. »Du solltest besser einen Weg finden, sie bald loszuwerden. Entweder das, oder bereite sie darauf vor, dass sie es mit zahllosen ausgehungerten Wahnsinnigen zu tun bekommen wird. Kolo?«
Raoden nickte.
Ein Punkt in der Mitte, eine Linie ein paar Zentimeter darüber und noch eine Linie, die rechts davon verlief: das Aon Aon, der Anfang jedes anderen Aons. Raoden zeichnete weiter. Seine Finger bewegten sich grazil und flink und hinterließen leuchtende Spuren. Er vervollständigte den Kasten um den Mittelpunkt und zog dann zwei größere Kreise darum. Das Aon Tia, Symbol des Reisens.
Doch Raoden hörte immer noch nicht auf. Er zeichnete zwei lange Linien von den Ecken des Kastens aus zum Zeichen, dass das Aon nur ihn betreffen sollte. Dann fügte er vier kleinere Aonen unten seitlich hinzu, die genau beschrieben, wie weit er versetzt werden wollte. Etliche Linien oben bedeuteten dem Aon zu warten, bis er den Mittelpunkt berührte und damit zu verstehen gab, dass er bereit war.
Er zeichnete jede Linie und jeden Punkt präzise. Länge und Größe waren überaus wichtig für die Kalkulationen. Es handelte sich immer noch um ein relativ einfaches Aon, das überhaupt nicht mit den unglaublich komplizierten Heilaonen zu vergleichen war, die in dem Buch
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