Elantris
ohnehin getan hätte. Zwar interessierte sie sich für AonDor, aber Politik faszinierte sie. Immer wenn Raoden der Bibliothek einen Besuch abstattete, um Aonen zu üben oder zu lesen, wählte Sarene einen Band eines uralten Historikers oder diplomatischen Genies aus und begann in der Ecke zu schmökern.
»... es ist verblüffend! Ich habe noch nie etwas gelesen, was die Rhetorik und Machenschaften der Fjordeller so gründlich entlarvt.«
Raoden schüttelte den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er sie nur angestarrt und ihre Gesichtszüge bewundert hatte, anstatt ihren Worten Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sagte etwas über das Buch, darüber, wie es fjordellische Lügen anprangerte.
»Jede Regierung lügt hin und wieder, Sarene«, sagte er, als sie schwieg.
»Stimmt«, meinte sie und blätterte durch das Buch. »Aber nicht in diesem Ausmaß. Die letzten drei Jahrhunderte über, seit Fjorden den derethischen Glauben angenommen hat, haben die jeweiligen Wyrne die Geschichtsschreibung und Literatur eklatant abgeändert, damit es so aussieht, als sei das Reich schon immer eine Offenbarung göttlichen Willens gewesen. Seht Euch das an!« Sie hielt erneut das Buch hoch, zeigte ihm diesmal jedoch eine Seite mit Versen.
»Was ist das?«
»Wyrn. Das Gedicht mit allen seinen dreitausend Versen.«
»Ich habe es gelesen«, sagte Raoden. »Wyrn soll die älteste überlieferte Literatur sein, älter noch als das Do-Kando, das heilige Buch, aus dem der Shu-Keseg und schließlich auch der Shu-Dereth und der Shu-Korath hervorgegangen sind.«
»Ihr habt vielleicht eine Fassung von Wyrn gelesen«, sagte Sarene mit einem Kopfschütteln. »Aber nicht diese hier. Moderne Fassungen des Gedichts beziehen sich beinahe auf derethische Weise auf Jaddeth. Die Fassung in diesem Buch beweist, dass die Priester das Original umgeschrieben haben, damit es so aussieht, als sei Wyrn derethisch gewesen - obwohl er lange vor der Gründung des Shu-Dereth gelebt hat. Damals war Jaddeth beziehungsweise der Gott dieses Namens, den der Shu-Dereth übernommen hat, ein relativ unwichtiger Gott, der sich um die Steine unter der Erde kümmerte.
Da Fjorden nun religiös ist, darf es nicht so klingen, als sei ihr größter historischer König ein Heide gewesen. Also sind die Priester sämtliche Gedichte durchgegangen und haben sie umgeschrieben. Ich weiß nicht, wie dieser Mann namens Seor an die Originalfassung von Wyrn gekommen ist, aber wenn sie bekannt würde, wäre das ziemlich peinlich für Fjorden.« Ihre Augen glitzerten boshaft.
Seufzend ging Raoden zu Sarenes Schreibtisch und kniete nieder, sodass sie auf gleicher Augenhöhe waren. Zu jeder anderen Gelegenheit hätte er nichts lieber getan, als bei ihr zu sitzen und ihr zuzuhören. Leider hatte er jedoch andere Sorgen.
»Na schön.« Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie das Buch beiseitelegte. »Was ist los? Bin ich wirklich so langweilig?«
»Überhaupt nicht«, sagte Raoden. »Es ist nur der falsche Zeitpunkt. Wisst Ihr ... Galladon und ich sind eben auf die elantrische Stadtmauer geklettert.«
Sie setzte eine verblüffte Miene auf. »Und?«
»Wir haben gesehen, dass die elantrische Stadtwache um Herzog Telriis Villa Stellung bezogen hat«, sagte Raoden. »Und nun haben wir gehofft, Ihr könntet uns vielleicht erklären, warum. Ich weiß, dass Ihr nicht gern über die Außenwelt sprecht, aber ich mache mir Sorgen. Ich muss wissen, was da draußen passiert.«
Sarene saß da, einen Arm auf den Schreibtisch gestützt, und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Wange, wie sie es so oft tat, wenn sie nachdachte. »Na schön«, meinte sie schließlich mit einem Seufzen. »Wahrscheinlich bin ich ziemlich ungerecht gewesen. Ich wollte Euch nicht mit den Ereignissen draußen belasten.«
»Manche Elantrier mögen desinteressiert wirken, Sarene«, sagte Raoden, »aber das liegt bloß daran, dass wir sowieso nicht ändern können, was in Kae vor sich geht. Ich würde jedoch lieber über die Lage draußen Bescheid wissen, selbst wenn es Euch nicht leichtfällt, darüber zu sprechen.«
Sarene nickte. »Es ist schon gut. Mittlerweile kann ich darüber reden. Der wirklich wichtige Teil hat wohl damit angefangen, dass ich König Iadon entthront habe. Das ist natürlich auch der Grund gewesen, warum er sich erhängt hat.«
Raoden plumpste in einen Sessel. Seine Augen waren weit aufgerissen.
Kapitel 44 Noch während Sarene sprach, stiegen die alten Sorgen um die politische Lage in Arelon in ihr empor. Ohne
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