Elantris
Seonen an der Mauer schwebten ziellos umher, wie Kinder, die sich verlaufen hatten. Instinktiv ahnte sie, dass sich solche verrückt gewordenen Seonen in Elantris einfanden, sobald ihre Herren dorthin gebracht worden waren.
Sie wandte den Blick von den Seonen, nickte den Kindern zu und stieg weiter die riesige Treppe empor. Sie würde sich auf Kae konzentrieren, richtig, aber einen Blick auf Elantris wollte sie trotzdem werfen. Es hatte etwas an sich - die Größe, die Äonen, den Ruf -, was Sarene am eigenen Leib erfahren wollte.
Im Gehen gelang es ihr, mit dem ausgestreckten Arm ein Aon zu erreichen, das in die Außenwand der Stadtmauer gehauen worden war. Sie fuhr über die gemeißelte Furche, die so breit wie ihre Hand war. Es gab keinerlei Ritzen zwischen einzelnen Mauersteinen. Was sie gelesen hatte, stimmte: Die gesamte Mauer bestand aus einem nahtlosen Stück Fels.
Bloß dass das Gestein mittlerweile nicht mehr makellos war. Von dem gigantischen Monolithen bröckelten einzelne Stücke ab, und es bildeten sich Risse, besonders oben an der Mauer. Als sie allmählich das Ende ihres Aufstiegs erreichten, Konnte Sarene Stellen erkennen, an denen große Mauerstücke weggebrochen waren und im Gestein Lücken hinterlassen hatten, die an Bisswunden erinnerten. Dennoch war die Mauer beeindruckend, zumal wenn man oben stand und nach unten auf das Umland blickte.
»Oh je«, sagte Sarene, der schwindelig wurde.
Daorn zog sie heftig hinten an ihrem Kleid. »Geh nicht zu nah an den Rand, Sarene.«
»Mir geht es gut«, erwiderte sie benommen. Allerdings ließ sie es sich gefallen, dass der Junge sie nach hinten zerrte.
Ashe schwebte neben ihr und glühte vor Sorge. »Vielleicht war das hier keine so gute Idee, Mylady. Ihr wisst doch, dass Ihr Höhen nicht vertragt.«
»Unsinn«, sagte Sarene, die sich bereits wieder erholte. Da bemerkte sie erst die große Menschenansammlung oben auf der Mauer ein Stückchen von ihnen entfernt. Eine durchdringende Stimme schallte über die Gruppe hinweg. Sarene konnte nicht ganz ausmachen, was gesagt wurde. »Was ist da los?«
Die Zwillinge zuckten beide ratlos mit den Achseln. »Keine Ahnung«, sagte Daorn.
»Hier ist normalerweise sonst niemand außer den Wachen«, fügte Kaise hinzu.
»Sehen wir uns die Sache mal an«, sagte Sarene. Sie war sich nicht sicher, hatte aber das Gefühl, den Akzent der Stimme wiederzuerkennen. Als sie sich dem Rand der Gruppe näherten, bestätigte sich Sarenes Verdacht.
»Das ist der Gyorn!«, sagte Kaise aufgeregt. »Ich wollte ihn sowieso endlich zu Gesicht bekommen.« Und sie war mitten in der Menge verschwunden. Sarene konnte gedämpfte Laute hören, die teils überrascht, teils verärgert klangen, als sich das kleine Mädchen einen Weg nach vorn bahnte. Daorn blickte seiner Schwester sehnsüchtig hinterher und trat einen Schritt vor, sah dann jedoch zu Sarene zurück und entschied sich, ganz der pflichtbewusste Fremdenführer, an ihrer Seite zu verharren.
Daorn hätte jedoch nicht befürchten müssen, keinen Blick auf den Gyorn erhaschen zu können. Sarene war ein wenig zurückhaltender als ihre junge Cousine, sie war allerdings genauso fest entschlossen, nahe genug an Hrathen heranzugelangen, um ihn verstehen zu können. Also bahnte sich Sarene, zusammen mit ihrem kleinen Wächter, höflich, aber bestimmt, einen Weg durch die versammelten Leute, bis sie ganz vorn stand.
Hrathen befand sich auf einer kleinen Aussichtsplattform, die in die Mauer von Elantris gehauen worden war. Zwar hatte er der Menge den Rücken zugewandt, doch stand er in solch einem Winkel zu den Leuten, dass seine Worte sie ohne Weiteres erreichten. Seine Rede war offensichtlich für ihre Ohren bestimmt, und nicht für diejenigen der Menschen unten. Sarene bedachte Elantris kaum mit einem Blick; dafür war später immer noch Zeit.
»Seht sie Euch an!«, befahl Hrathen, indem er auf Elantris deutete. »Sie haben das Anrecht verloren, als Menschen betrachtet zu werden. Es sind Tiere, die weder den Willen noch das Verlangen verspüren, Lord Jaddeth zu dienen. Sie kennen keinen Gott und können nur ihren eigenen Begierden folgen.«
Sarene runzelte die Stirn. Laut Shu-Dereth bestand der einzige Unterschied zwischen Menschen und Tieren darin, dass die Menschen in der Lage waren, Gott - oder »Jaddeth«, wie er auf Fjordellisch genannt wurde - zu huldigen. Diese Lehre war nichts Neues für Sarene, denn ihr Vater hatte dafür gesorgt, dass ihr im Laufe ihrer Ausbildung eine genaue Kenntnis
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