Elben Drachen Schatten
wahrscheinlich bereits in der Vorzeit Athranors geschaffene Heilersprache, die ausschließlich magischen Heilformeln vorbehalten war, stand im Verdacht, starke Nebenwirkungen zu verursachen und war deswegen bei der Mehrheit der Heilerzunft in Verruf geraten. Es war von Fällen berichtet worden, bei denen die Behandelten anschließend unter starker Verwirrung litten, einige sogar unter dauerhafter geistiger Umnachtung. Da die spirituelle Schwäche der Elben allerdings nicht nur Magier und Schamanen, sondern in weniger gravierender Form auch die Heiler betraf und viele Behandlungsmethoden mehr oder minder schleichend an Wirksamkeit eingebüßt hatten, wurde die Heilsprache inzwischen wieder angewendet. Denn es bestand kein Zweifel darüber, dass durch ihren Gebrauch die Wirkung von Heilsprüchen stark erhöht wurde.
»Ich bin mir nicht sicher, ob sein Geist nicht bereits in Eldrana weilt«, sagte Eónatorn mit ernstem Gesicht, nachdem er die Fingerspitzen wieder von Andirs Stirn gelöst hatte.
»Die Elbenheit braucht ihn«, sagte Sandrilas hart. »Das hat die Schlacht um den Elbenturm in aller Deutlichkeit gezeigt. Jemandem wie Andir darf es nicht gestattet sein, vorzeitig nach Eldrana einzugehen.«
»Wer sagt Euch, dass es vorzeitig wäre?«, fragte Eónatorn und schaute den Prinzen scharf an. »Kennt Ihr die Wege des Schicksals in all ihren Verzweigungen?« Der Kriegsheiler wandte sich an Keandir. »Ich habe selbst unter Verwendung der alten Heilsprache kein Anzeichen dafür gefunden, dass sein Geist noch in der Welt der Diesseitigen weilt. Die letzte Möglichkeit sehe ich darin, ihm eine hohe Dosis der Essenz der Sinnlosen zu verabreichen.«
»Dann tut das, werter Eónatorn«, forderte Keandir.
»Ein Geist, der sich an der Grenze nach Eldrana befindet, könnte dadurch ins Reich der Verblassenden Schatten geschleudert und ein Maladran werden«, warnte der Kriegsheiler.
»Versucht es dennoch«, verlangte Keandir.
»Anstatt der geistigen Aura Andirs habe ich etwas anderes gespürt, mein König.«
Keandir hob die Augenbrauen. »So?«
»Die Schamanen und Magier Elbenhavens scheinen sich zusammengefunden und ihre Kräfte gebündelt zu haben, um Andir bei seiner Abwehr der Schattengeschöpfe zu unterstützen.«
»Wie in alten Zeiten«, murmelte Keandir, der sich sogleich an die Schlacht an der Aratanischen Mauer erinnerte: Andir hatte mit den versammelten Magiern und Schamanen der Elbenheit Riboldirs Zauber angewandt, um gewaltige Felsblöcke über dem Heereszug des Eisenfürsten Comrrm materialisieren zu lassen, die als tödlichen Steinschlag auf dem Feind herabgeregnet waren.
Das war lange her. Damals waren Prinz Andir und seine außergewöhnliche magische Begabung noch ein wichtiger Pfeiler des Reichs von Elbiana gewesen, das Keandir gegründet hatte. Im Laufe der Zeit hatte sich Andir immer mehr aus den Regierungsgeschäften zurückgezogen und die Sitzungen des Kronrates kaum noch besucht, um sich seiner Suche nach Erkenntnis und Wahrheit zu widmen. Irgendwann war selbst dem König klar geworden, was viele andere in seiner Umgebung bereits viel früher geahnt hatten: Dass Andir nämlich wohl niemals für die Thronfolge infrage kam. Damals begann man ihn einen »König des Geistes« zu nennen, dessen Reich aus Schriften, Gedanken und Theorien bestand und nicht aus Festungsmauern, einem Heer und einer Kriegsflotte.
Eónatorn holte eine perlmuttbesetzte Dose hervor, in der sich ein weißes Pulver befand. Man nannte es auch den »Eldranitischen Blitz«, und Elben, die unter Lebensüberdruss litten, nahmen es gern in viel zu hoher Dosis, da sich die Unglücklichen mit Hilfe dieser Substanz einen Vorgeschmack auf das Reich der Jenseitigen Verklärung erhofften, was nicht selten in immerwährendem Wahnsinn endete. Beim »Eldranitischen Blitz« handelte es sich um ein besonders hoch konzentrierten Extrakt jener Heilpflanze, die man »Die Sinnlose« nannte und die vorzugsweise in den Zentaurenwäldern des Waldreichs wuchs.
Eónatorn öffnete Andirs Mund, dessen aufgesprungene Lippen eine blaue Färbung angenommen hatten, und ließ reichlich vom »Eldranitischen Blitz« hineinrieseln. Anschließend füllte er die Nasenlöcher des wie leblos daliegenden Prinzen mit dem Pulver.
Augenblicke später stiegen beißende, bläuliche Dämpfe aus Nase und Mund. Dazu erklang ein Laut, der entfernte Ähnlichkeit mit dem Stöhnen eines Elben hatte, aber so verfremdet und dumpf klang, dass Keandir darin keine Seelenäußerung
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