Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
kannte ihre Fähigkeiten zu wenig, um beurteilen zu können, ob sie, wenn sie das Bewusstsein verlieren würde, ertrinken konnte. Und wer konnte schon wissen – vielleicht hatte das Ungeheuer, das sie gerade getötet hatte, eine Familie, die kommen würde, um es zu rächen. Nein, Svenya musste an Land, um dort ihre Verletzungen heilen zu lassen.
Sie blickte auf und sah, dass das Ufer nur wenige Meter entfernt war … sie kamen ihr vor wie Meilen. Doch was nutzte es? Sie riss sich zusammen, ließ sich von dem verschmierten Schuppenleib rutschen und schwamm mit langsamen Bewegungen, von denen jede einzelne mörderisch wehtat, hinüber. Auf allen vieren kroch sie aus dem Schlamm an Land und hustete Blut.
Erst jetzt, als die Anspannung von ihr abfiel wie ein Anker, dessen Kette man gesprengt hatte, fing Svenya am ganzen Leib heftig an zu zittern. Sie ließ sich auf den Rücken fallen und begann zu weinen. Warum nur hatte man sie nicht einfach Spülerin in der ollen Kaschemme bleiben lassen? Nichts von all dem Schrecklichen, das in den letzten Stunden passiert war, wäre dann geschehen. Was sollte nur werden, wenn das von jetzt an immer so weiterging? Aus dem Weinen wurde ein Schluchzen – dem sie sich vor Erschöpfung und Verzweiflung hingab.
»Erbärmlich«, sagte da eine Stimme. »Absolut erbärmlich.« Es lag Verachtung in dieser Stimme – einer Stimme, die Svenya sofort erkannte.
Yrr!
Mit hoch erhobenem Schwert trat Hagens Tochter über sie …
… und schlug gnadenlos zu.
42
Lau’Ley saß auf den Zinnen Aarhains und schnitzte mit ihren Titannägeln Runensteine aus menschlichen Fingerknochen, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben. Sie summte ein altes Lied, das ihre Anspannung mildern sollte, denn sie wusste, dass sie auf die eine oder andere Art verlieren würde – die Frage war nur, welcher Verlust ihr den größeren Gewinn einbrachte.
Laurin stand nicht weit von ihr an der Brüstung und schaute in die Höhle hinab – die Füße schulterbreit auseinander gestellt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt: die stoische Haltung eines Feldherrn, der darin geübt war zu warten. Beide wussten sie, dass sie die Nachricht über den Ausgang der Jagd auf die Auserwählte über Funk oder das Telefon erhalten würden. Hier draußen auf der Wehranlage zu warten, war also überhaupt nicht nötig, sondern mehr eine Gewohnheit aus uralten Tagen, als Nachrichten noch von einem berittenen Boten gebracht wurden.
»Wieso willst du sie?«, fragte Lau’Ley, ihr Lied unterbrechend. »Wieso ist sie so wichtig?«
Laurin rührte sich nicht.
Lau’Ley nahm das als gutes Zeichen. Er hatte ihr nicht geboten zu schweigen.
»Ist sie so stark, dass sie uns gefährlich werden könnte?«, hakte sie nach.
»Oh ja«, sagte Laurin, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Stark ist sie. Sehr stark sogar. Und zweifelsohne kann sie uns auch sehr gefährlich werden. Doch ihre Stärke ist nicht der Grund, weshalb ich sie jage.«
»Was ist dann der Grund?«
Lau’Ley konnte es nicht sehen, es dafür aber deutlich fühlen – er schmunzelte.
»Du hast wirklich keine Ahnung, wer sie ist, nicht wahr?«, fragte er.
Sie stutzte. »Sollte ich denn?«
Er blieb ihr die Antwort schuldig, doch Lau’Ley gab nicht auf. »Wer ist sie?«
»Viel wichtiger, meine Liebe, ist die Antwort auf die Frage, was sie ist.«
Lau’Ley unterdrückte ein ungeduldiges Seufzen. »Also gut«, spielte sie mit. » Was ist sie?«
»Der Schlüssel nach Hause, Lau’Ley«, antwortete Laurin schlicht und drehte sich jetzt endlich zu ihr um. Sein dunkler Blick funkelte voller Sehnsucht. »Sie ist unser Ticket heraus aus dieser Einöde und zurück in die Heimat.«
Lau’Leys Augen weiteten sich voller Erstaunen … und vor Schreck. Die Auserwählte war der Schlüssel nach Hause? Was? Hatte sie ihrem Kind etwa befohlen, die erste ernstzunehmende Chance seit Jahrhunderten auf die so lange ersehnte Rückkehr in die alte Heimat zu vernichten?
Bei allen Dämonen Hels! Sie musste sich auf die Zunge beißen, um sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen. Ihr Magen verkrampfte sich, als ihr die Ausmaße dessen, was sie getan hatte, bewusst wurden. Ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr der Runenstein, an dem sie gerade gearbeitet hatte, entglitt und über die Zinne hinweg in den Abgrund fiel. So steil und so tief wie das Herz, das ihr in die Eingeweide herabsank. Vor Furcht, denn Lau’Ley erkannte, hier ging es um weit mehr als nur um ein Spielzeug für Laurin
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