Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
die hoch über dem lange vergessenen Kerker der ehemaligen Festung lag, in den sie Svenya gesperrt hatte, blickte über die in der aufgehenden Sonne glitzernde Elbe und jagte ihren sich im Kreis drehenden Gedanken nach, um eine Entscheidung zu fällen. Obwohl sie hier geboren worden war und nichts anderes kannte als Midgard, sehnte sie sich nach Alfheim, der alten Heimat ihres Volkes. Die älteren Elben, die es noch real erlebt hatten, hatten ihr versichert, dass es einen dort niemals fröstelte. Sicher, es gab dort nicht nur Sommer, sondern auch kältere Jahreszeiten – doch niemals Winter. Kein Schnee, kein Eis … und höchstens kühle, aber niemals kalte Morgen. Diese Sehnsucht machte Yrr wütend, denn Alfheim war für immer verloren, und einem unerfüllbaren Traum nachzuhängen, entsprach einfach nicht ihrer pragmatischen Natur. Sie hatte schon vor langer Zeit die Entscheidung gefällt, sich mit den Gegebenheiten abzufinden und das Beste aus der Realität zu machen, um nicht ebenso verträumt und verloren vor sich hinzuvegetieren wie viele ihrer älteren Brüder und Schwestern. Klare Entscheidungen bringen klare Wege … begehbare Wege … Wege, die nach vorne führen . Ihr Verstand hatte das vollumfänglich verinnerlicht – nur ihr Herz vergaß es hin und wieder … und blickte zurück … in eine im Nebel liegende Vergangenheit … die nicht die ihre war … und dennoch das Fundament all dessen, was sie ausmachte.
Die Hüterin hatte sie verraten. Sie und ihr Volk. Die Schande, auf ihrem Posten versagt zu haben und dass es ausgerechnet auch noch ihre Wache war, in der die Hüterin nicht nur entkommen war, sondern sie auch noch überwunden und gefesselt hatte, war nichts im Vergleich zu der Aussicht, dass ohne eine Hüterin Laurins Dunkle früher oder später gewinnen würden. Zumal sie selbst ihres Postens enthoben und ihr untersagt worden war, die Aufgaben der Hüterin weiter in Vertretung zu übernehmen. Sie war die Beste für diesen Job – sogar besser als die Hüterin selbst.
Hätte die nicht ihre Tarnung gehabt …
Yrr konnte von Glück sagen, dass sie nicht verbannt worden war … alles wegen dieser undankbaren und unwürdigen Zicke. Obwohl, Yrr musste anerkennen, dass Svenya sich gegen den Leviathan gar nicht einmal so schlecht geschlagen hatte. Immerhin hatte das Biest schon weit mehr Jahre auf dem Buckel als selbst Oegis, und bisher war es noch keinem der Elben gelungen, es zu bezwingen. Doch Yrr war überzeugt, dass sie selbst es geschafft hätte. Das Vieh hatte schon lange auf ihrer Liste gestanden, aber es war ihr von Hagen verboten gewesen, Jagd darauf zu machen, wie es ihm selbst in all den Jahrhunderten von Alberich verboten gewesen war. Alberich war immer der festen Überzeugung gewesen, dass das Risiko, Hagen dabei zu verlieren, ein zu großes war … ein zu großer möglicher Verlust für Elbenthal … und wie immer hatte ihr Vater seine Interessen hinter die seines Volkes gestellt und gehorcht … so wie auch Yrr es stets tat, denn darin glich sie ihrem Vater wie ein Ei dem anderen.
Und was hat es mir gebracht?, fragte sie sich wütend, während sie auf die ersten Touristen herabblickte, die auf die Brühlschen Terrassen unter ihr geschlendert kamen. In weniger als zwei Stunden würden es mehrere Hundert sein – keiner von ihnen auch nur im Entferntesten ahnend, dass unter ihnen eine kleine Armee der letzten Überlebenden eines verlorenen Volkes gegen die Dunkelheit kämpfte, die sie alle zu verschlingen drohte. Eine Armee, der Yrr nicht länger angehörte. Nicht nur war sie jetzt entehrt, auch eine andere hatte an ihrer Stelle den Ruhm eingestrichen, Lau’Leys letztes Kind erschlagen zu haben. Jemand, der es nicht verdient hatte: die Verräterin! Jetzt würde die Versagerin trotz ihres Verrates Einzug halten in die Heldenlieder der Barden … und die Tatsache, dass Yrr sie gefangen genommen hatte, als sie schwer verletzt vom Kampf gegen den Unhold am Boden lag, würde ihr, der Tochter Hagens, der Enkelin des Alberich, Schmach einbringen und Schande … anstatt der Ehre, die sie eigentlich verdient hätte, weil sie die Geflohene wieder eingefangen hatte.
Das war der Grund, warum Yrr Svenya hier in diesem Versteck gefangen hielt: Svenya musste vollständig genesen, damit Yrr sie dann in einem Duell besiegen und bezwingen und als Gefangene nach Elbenthal zurückführen konnte … um der Welt zu beweisen, dass sie stärker war … stärker als die Schlächterin des
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