Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
und zogen kampfbereit ihre Waffen. Sofort griffen auch Laurins Leute zu ihren Schwertern, Bögen und Gewehren.
»Stopp!«, rief Laurin mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Senkt die Waffen. Alle! Das ist ein Befehl!«
Seine Leute gehorchten ohne Ausnahme.
Laurin deutete auf Gerulfs Leichnam. »Er hat gegen meinen ausdrücklichen Willen gehandelt, und den Tod hatte er ohnehin verdient.« Er drehte sich, so gut es die Klingen, die Svenya noch gegen seinen Hals gedrückt hielt, zuließen, ein wenig weiter zu Hagen herum. »Du hast mir gerade auf sehr verdrehte Weise das Leben gerettet, Sohn des Alberich. Dafür würde ich dir jetzt Dank schulden, hättest du es nicht getan, um die Hüterin zu retten.« Sein Blick kehrte zurück zu Svenya. »Du bist frei, Hüterin. So wie ich es geschworen habe. Aber verrate mir eines.«
»Was?«, fragte Svenya.
»Warum hast du deine Hand gesenkt, als der Speer kam? Er hätte sonst mein Herz durchbohrt.«
»Dann wärst du gestorben. Und das wollte ich nicht.«
Laurin zog fragend eine seiner dunklen Augenbrauen nach oben. »Warum nicht?«
»Weil du die Antwort auf die Frage kennst, die ich nicht stellen darf.« Sie nahm die Schwerter von seinem Hals und ließ sie neben ihm fallen. Dann drehte Svenya sich um, ging zu Skalliklyfja und zog sie aus dem Boden. Erst dann sah sie ihn wieder an. Er hatte sich nicht von der Stelle bewegt, aber sie hätte schwören können, dass in seinen dunklen Augen Bewunderung lag. Sie schritt zum Altar zurück. »Und irgendwann wirst du sie mir geben, diese Antwort.« Damit zerschlug sie die noch immer glühenden Ritualgegenstände einen nach dem anderen. Erst dann wandte Svenya sich ab und ging zu ihren Freunden.
Niemand stellte sich ihr in den Weg.
61
Dresden
»Du warst wirklich bereit, mich zu töten?«, fragte Svenya Hagen knapp eine Stunde später und blickte vom Dach der Semperoper, auf der sie standen, über die Elbe hinweg in die aufgehende Sonne. Der Angriff aus Alfheim war ausgeblieben, und Raegnir war noch vor ihrer Rückkehr auf Alberichs Befehl hin hingerichtet worden.
»Du kennst die Antwort«, sagte Hagen leise, ebenfalls ohne sie anzusehen.
Der Seufzer, der aus ihrer Brust drang, überraschte sie selbst. »Wird es immer so sein?«
»Du hast die Gefahr gebannt, dass Laurin ein zweites Tor öffnet, indem du die Reliquien zerstört hast.«
»Das meine ich nicht.«
»Ich weiß«, gestand Hagen. »Aber was soll ich sagen, Svenya?«
»Du könntest sagen, was jeder hören will: Dass die Schrecken hinter uns liegen und von jetzt an alles gut wird.«
»Die Schrecken liegen hinter uns. Von jetzt an wird alles gut.«
Svenya schaute ihn an und musste unwillkürlich lachen, als sie sah, wie schwer ihm selbst diese kleine Lüge fiel, die er, wie sie wusste, nur ihr zuliebe ausgesprochen hatte. Ihr Lachen zauberte tatsächlich auch ihm ein Lächeln auf das finstere Gesicht. Doch dann wurde er wieder ernst.
»Danke, dass du einen Weg gefunden hast, der es mir erspart hat, dich zu töten«, sagte er kaum hörbar.
»Ich danke dir, dass du so lange gezögert hast, bis ich schließlich einen finden konnte«, gab Svenya ehrlich zurück. »Was allerdings die Frage aufwirft: Warum hast du eigentlich so lange gezögert?«
Hagen stockte und atmete tief ein. Am Mahlen seines kantigen Kiefers erkannte Svenya, dass er um eine passende Antwort rang – oder vielmehr damit, die Wahrheit zu gestehen. »Yrr hat sich mir in den Weg gestellt«, sagte er schließlich.
Ja, das hatte sie. Svenya war froh, dass aus ihrer ursprünglich größten Widersacherin eine so gute und loyale Freundin geworden war. »Deine Tochter ist wirklich großartig, weißt du das?«
»Ja, das weiß ich. Danke.«
Es amüsierte sie zu sehen, wie sein Gesicht sich entspannte, weil er glaubte, vom Haken zu sein. Also zog Svenya ein wenig an der Schnur. »Aber sie war nicht der einzige Grund, weshalb du gezögert hast.«
Seine dichten Augenbrauen zogen sich zusammen. »Natürlich war sie nicht der einzige Grund.«
»Also?«
»Also was?«
»Warum hast du gezögert?«
Hagen schnaubte unwirsch. »Glaubst du etwa, es fällt mir leicht, eine der Unseren zu töten?«
Svenya unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte ihn jetzt genug gequält. Früher oder später würde er ihr gestehen, dass und wie sehr er sie liebte. Sie konnte warten. Falls erforderlich sogar eine ganze Ewigkeit lang. Aber so lange würde es nicht dauern, bis dieser Eisklotz endlich lernte, zu seinen Gefühlen zu
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