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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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eins. Die Hellen ruhten nicht.
    Sie formten Kinder nach ihrem Bild.
    Es war unvollkommen. Licht nahm die Dunklen, nahm die Ewigkeit von ihnen, nahm ihre Ruhe.
    Licht gab ihnen Atem und Bewegung und Zeit.
    Die Welt begann.

10
    Die riesige Rotesche war der älteste und gleichzeitig der größte Baum im Wandernden Hain. Die ausladende Krone überschattete jene jüngeren Baumenkel, die in respektvoller Entfernung zu ihr Wurzeln geschlagen hatten.
    In ihrer Zeit als Bewahrerin war Iviidis fast täglich hierher gekommen, um in den Archiven zu arbeiten, die in unzähligen Kammern im Geäst der Rotesche und auch in Höhlen in ihrem mächtigen Stamm untergebracht waren.
    Hier war das Gedächtnis ihres langlebigen Volkes, waren seine Erinnerungen, seine Geschichte, seine Überlieferungen verwahrt. Wenn ein Elb sich entschied, zu den jenseitigen Ufern aufzubrechen, ging er vorher zu den Bewahrern und ließ all seine Erinnerungen in den Archiven zurück.
    Iviidis schritt langsam über das weiche Moos, das ihre Füße einsinken ließ wie ein exquisiter Seidenteppich. Glautas war so erfreut darüber, dass seine Tochter sich jetzt schon mehrmals bei Hofe hatte sehen lassen und des Öfteren im vertraulichen Gespräch mit seinem Liebling Nekiritan gesehen wurde, dass er ihr wahrscheinlich jeden Wunsch erfüllt hätte. Als sie ihn darum bat, ihre Forschungsarbeit im Archiv wieder aufnehmen zu dürfen, hatte er sich sichtlich gefreut und ihr sogleich wieder den alten Status verliehen. Damit hatte sie also freien Zutritt zu nahezu allen Archiven, bis auf die, für deren Zugang auch die höchsten Bewahrer-Ränge Glautas’ persönliche Erlaubnis benötigten.
    Ein gelber Fleck Sonnenlicht taumelte durch die Luft und näherte sich ihr. Ein großer Schmetterling tanzte um ihr Gesicht, berührte ihre Wange zart wie ein Kuss und landete dann auf ihrem Scheitel. Sie spürte die tastende Bewegung seiner zierlichen Beine und lächelte erwartungsvoll.
    Liebste , flüsterte Olkodans Geist-Stimme in ihrem Kopf. Ich vermisse dich so sehr. Hast du eine schöne Zeit? Freut sich Indrekin, seinen Großvater so oft zu sehen? Ach, ihr fehlt mir so. Die Stimme machte eine winzige Pause. Ich hatte einen interessanten Gast , fuhr Olkodan fort. Aber davon erzähle ich dir, wenn du wieder daheim bist. Bleib im Sommerpalast, solange es dir gefällt – aber komm möglichst bald wieder nach Hause! Sie spürte sein Lächeln bei diesen Worten.
    Iviidis hob die Hand und nahm den Falter behutsam zwischen die Fingerspitzen. Lautlos gab sie ihm die Nachricht an Olkodan mit: Liebster, ich vermisse dich auch – sehr, sehr, sehr! Indrekin fragt immer nach dir. Ich wünschte, du wärst hier. Sie zögerte kurz und verscheuchte den lästigen Gedanken an Nekiritan, der sich in den Vordergrund drängelte. Sie wollte nicht, dass Olkodan einen falschen Eindruck bekam. Ihr kleiner Flirt mit Nekiritan hatte keine persönlichen Gründe. 
    Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkommen werde , fügte sie hinzu. Aber ich trödele nicht herum, das verspreche ich dir. Ich freue mich darauf, wieder bei dir zu sein!
    Sie hob den Falter an die Lippen und hauchte ihn sanft an. Er spreizte behaglich die Flügel und sah sie mit seinen facettierten Regenbogenaugen an. »Flieg zurück zu ihm«, flüsterte sie. Der goldene Schmetterling hob sich von ihrer Hand und gaukelte empor, hoch und immer höher, bis er mit dem Sonnenlicht verschmolz und sie ihn nicht mehr sehen konnte.
    Iviidis blieb noch einige Lidschläge lang stehen. Nachdenklich betrachtete sie das Sonnenmuster zu ihren Füßen. Olkodan hatte seltsam verhalten geklungen – als hätte er etwas vor ihr zu verbergen. Und wer war der Gast gewesen, von dem er gesprochen hatte?
    Sie schüttelte das leise Unbehagen ab, das sie befallen hatte, und setzte ihren Weg fort.
    Die spiralförmig um den Baum herumführenden Stufen der ersten Treppe waren so sorgsam aus dem rissigen alten Stamm herausgesungen worden, dass ein Fremder sie mit Sicherheit übersehen hätte. Sie waren moosbewachsen bis auf die kleine blankpolierte Stelle in jeder Stufenmitte, die die Füße der Bewahrer seit Generationen bei ihrem Aufstieg berührten. Iviidis pries die Alten, als sie die Stufen erklomm.
    Auf der Höhe der ersten ausladenden Äste endete die erste Treppe. Ohne auf den Wind zu achten, der ihr kitzelnde Haarsträhnen ins Gesicht blies, lief sie leichtfüßig über den Ast und freute sich an den sanften Erschütterungen.
    Die zweite Treppe war eine

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