Elbenzorn
sich hier im Archiv vergrub. Sein großer Schädel und sein Gesicht waren vollkommen haarlos, die unbewimperten Augen riesig und von einer nicht zu bestimmenden Farbe. Jetzt, im Schimmer des leuchtenden Mooses und einiger kleiner Glühsteine, hatten sie eine winterblasse, graugrüne Tönung, aber bei näherem Hinsehen verlor sich der Eindruck in einem opalisierenden Schimmer.
Iviidis bemerkte, dass sie ihn immer noch anstarrte. Alvydas lächelte sein beinahe kindliches Lächeln, und seine Augen nahmen eine wärmere Schattierung an. Früher war er kräftiger gewesen und seine glatte Haut von einer gesunden, für einen Goldenen Elben sogar ungewöhnlich dunklen Tönung gewesen.
Jetzt überzog ein dichtes Netz von haarfeinen Fältchen ein mondbleiches, knochiges Gesicht, das so eingefallen und hager war, wie auch der Rest seines Leibes zu sein schien.
»Alvydas, was ist mit dir?«, stammelte Iviidis zutiefst beunruhigt. Sie griff nach seiner Hand.
Er drückte sanft ihre Finger und ließ sie wieder los. »Du brauchst mich nicht so besorgt anzusehen«, sagte er trocken. »Ich erfreue mich bester Gesundheit, auch wenn ich vielleicht nicht mehr ganz so ansehnlich bin wie früher.« Er griff hinter sich und nahm einen Krug mit Wasser aus einer Wandnische.
Iviidis kannte diesen Raum wie ihr eigenes Zimmer, und anscheinend hatte sich hier nichts verändert. Ohne nachzudenken, holte sie aus einem Fach in dem Schränkchen neben ihrem Sitz einen Becher hervor. Alvydas lächelte wieder und schenkte ihr Wasser ein, das mit ein wenig frischer Minze aromatisiert war.
Er lehnte sich zurück, vorsichtig, als hätte er Schmerzen, und faltete die langen Hände im Schoß. »Du siehst ausgezeichnet aus«, sagte er in recht nüchternem Ton. »Deine Ehe bekommt dir gut, wie es scheint. Glautas hat mir erzählt, dass du ein Kind hast. Einen Sohn, richtig?«
Iviidis bejahte. Alvydas’ klare Stimme und sein Geplauder verjagten nach und nach ihren Schrecken.
»Dein Vater besucht mich immer noch regelmäßig«, sagte der Elb. »Ich glaube, alle anderen haben vergessen, dass es mich gibt.« Er kicherte leise und vergnügt. »Wahrscheinlich würden sie vor Schreck umfallen, wenn ich mich wieder einmal draußen sehen ließe.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich gehe selten hinaus. Immer nur bei Nacht – ich vertrage das Sonnenlicht nicht mehr gut.«
»Wer sorgt für dich?«
»Glautas kümmert sich darum, dass ich alles bekomme, was ich benötige.« Ihr alter Lehrer schob sich in eine aufrechtere Position und deutete auf ein Kästchen in einem Regal an der Wand. »Bring mir das einmal her, ich möchte dir etwas zeigen.«
Iviidis gehorchte. Der Kasten war aus Kirschholz gefertigt, und als sie ihn aufhob, stellte sie fest, dass er nicht mit der Hand hergestellt, sondern aus einem Stück der Wurzel herausgesungen worden war. Das war das Werk eines wahrhaft meisterlichen Baumsingers, und Iviidis äußerte ihre Bewunderung, als sie es vor Alvydas hinstellte.
»Es ist ein Geschenk einer guten Freundin«, sagte ihr alter Lehrer geistesabwesend. Seine Finger glitten über die scheinbar nahtlose Oberfläche des Kastens. Iviidis hörte das Klicken einer feinen Feder, dann sprang der Deckel auf.
Mit sanften Händen hob Alvydas einen großen, schwarzen Kristall aus der Höhlung. Das schwache Licht der Glühsteine spiegelte sich in den Facetten des Steins, vervielfachte sich und verlor sich in seinen grün, purpur und gelblich lodernden Tiefen. Iviidis hielt den Atem an. Das war der größte und makelloseste Schwarzbernstein, den sie je gesehen hatte. Er war groß genug, um die Erinnerungen einer ganzen Sippe zu speichern.
»Nimm ihn in die Hand«, sagte Alvydas. Seine Augen schienen die purpurnen und gelben Blitze zu spiegeln, die im Kristall tanzten. »Entzünde einen Elbenfunken und sieh ihn dir an.«
Sie nahm ihm behutsam den Stein aus den Fingern. In dem kurzen Augenblick, in dem sie beide den Kristall berührten, fing sie Bruchstücke seiner Gedanken auf. Es waren undeutliche Bilder, nicht vergleichbar mit dem klaren Rapport, den ein Sondierer während einer Aufzeichnungs-Sitzung mit seinem Partner erlebte. Sie empfing ein Gefühl des Verlustes, der Heimatlosigkeit und der Trauer; gleichzeitig sah sie einen jungen, starken Baum vor sich – die Rotesche, in deren Schoß sie sich jetzt befand, wie sie vor Tausenden von Umläufen ausgesehen haben musste. Das Bild verblasste, als der Kristall nur noch in ihren Händen ruhte. Er
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