Elbenzorn
war leicht und warm, wie Schwarzbernstein es an sich hatte. Sie hauchte auf seine seidenglatte Oberfläche, und als der Dunst ihres Atems sich verzog, ließ sie einen Elbenfunken über den Stein tanzen.
Tief im Inneren des Steins strahlte eine kleine Sonne auf. Iviidis seufzte entzückt und umfasste den Kristall mit beiden Händen. Sie ließ ihren Geist in den Stein sinken. Der Baum, der diese große Träne geweint hatte, war schon seit Äonen vom Antlitz der Welt verschwunden. Dieser Bernstein war älter als alle, die sie je in den Händen gehalten hatte. Mit angehaltenem Atem sondierte sie sein Innerstes. Er war völlig frei von Verunreinigungen, und die einzigen Erinnerungen, die er freigab, waren seine eigenen.
Iviidis hob den Blick und sah Alvydas an. »Wo hast du ihn her?«, fragte sie. Er lächelte.
»Er wurde von weit her zu mir gebracht«, sagte er. »Sandläufer haben ihn gefunden, am Rande des südlichen Karsts. Noch nicht einmal ich wusste, dass es dort vor Urzeiten Bäume gegeben hat.«
Iviidis legte den Stein wieder in die Hände ihres alten Lehrers zurück. »Wofür willst du ihn nehmen?«, fragte sie.
Ein Wolkenschatten wanderte über seine irritierenden, wimpernlosen Augen. »Wirst du wieder als Sondiererin arbeiten?«, fragte er, ohne ihre Frage zu beantworten.
Iviidis schüttelte den Kopf. »Ich hatte vor, mich um mein altes Projekt zu kümmern«, erwiderte sie. »Erinnerst du dich?«
Er lächelte wieder. Die haarfeinen Runzeln in seinem Gesicht wurden tiefer. »Ich erinnere mich an alles«, sagte er sanft. »Und ich habe etwas für dich.«
Er stand schwerfällig auf, seine Hände auf die Lehnen des Stuhls gestützt, und ging zu der mit Nischen übersäten Wand. Iviidis machte Anstalten, ihm zu helfen, aber er hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Eine Zeit lang stand er vor der Wand und dachte nach. Dann griff er in eine der dunklen Nischen und holte zwei kleinere, helle Kristalle heraus.
Iviidis hörte, wie schwer sein Atem ging, als er wieder neben ihr stand – als wäre er eine lange Strecke schnell gelaufen, statt nur ein paar Schritte von Wand zu Wand zu tun. Er stützte sich für einige Atemzüge auf ihrer Schulter ab.
»Alvydas«, begann sie hilflos, aber er schüttelte streng den Kopf.
»Du kannst nichts für mich tun, Kind«, sagte er. »Die Zeit liegt schwer auf meinen Schultern. Wenn der Weg zu den Barmherzigen nicht so weit wäre, wäre ich ihn schon längst gegangen.« Iviidis blickte ihn fragend an. Sie verstand nicht, was er ihr sagen wollte – wen nannte er die »Barmherzigen« und wohin musste er reisen, um zu ihnen zu gelangen?
»Sieh sie dir an«, forderte er sie auf, ihre unausgesprochenen Fragen missachtend. Verwundert blickte Iviidis auf ihre Hände nieder. Sie hatte die Kristalle vergessen, die er ihr gereicht hatte.
Prüfend hielt sie den kleineren der beiden gegen das schwache Licht des Glühsteins auf dem Tisch. Das war kein Schwarzbernstein, sondern rötlich glühendes Kristallharz. Auch ein alter Stein, wie sie an seinem ungewöhnlichen Schliff erkannte. Sie schloss die Hand darum und ließ ihren Geist hineinsinken. Klar und kühl fanden Worte den Weg in ihr Bewusstsein: »Der Anfang war Dunkelheit, allumfassend und vollkommen. Nichts fehlte und nichts war zu viel. Alles war eins und alles.«
Ihr Atem stockte und sie blickte auf. »›Verborgenes Licht‹«, hauchte sie erschüttert. »Alvydas, du hast es gefunden!« Er hatte sich wieder niedergelassen und saß nun vorgebeugt da, die Hände auf dem Tisch gefaltet. Sein bleiches Gesicht war müde, aber der Blick seiner Augen so klar und scharf wie früher. »Den anderen«, forderte er sie auf.
Iviidis legte den ersten Kristall widerstrebend beiseite. Die Aufzeichnungen der legendären Elben-Historikerin hatten als verloren gegolten. Wo immer Alvydas sie gefunden hatte, es war eine Sensation. Seltsam nur, dass niemand ihr davon erzählt hatte. Der Fund dieses Kristalls hätte ein Hauptgespräch in Bewahrerkreisen sein müssen. Und selbst, wenn die Aufregung darüber schon geschwunden war: Jeder wusste doch, dass Andronee Mondauges Aufzeichnungen eine der wichtigsten Quellen für ihre Forschungsarbeit bildeten. Warum hatte niemand mit ihr darüber gesprochen?
»Niemand weiß davon«, sagte Alvydas leise. Wie so oft hatte er das Echo ihrer Gedanken gehört.
Iviidis riss den Kopf hoch. »Was?«, fragte sie fassungslos, beinahe sicher, dass sie ihn falsch verstanden hatte.
Er hob die Hände.
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