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Elbenzorn

Elbenzorn

Titel: Elbenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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freischwebende Konstruktion aus Seilen und Holz. Iviidis knotete ihre Tunika in der Hüfte und schwang sich mit sicheren Griffen und Tritten empor. Sie war ein halbes Kind gewesen bei ihrem ersten Aufstieg und hatte große Angst davor gehabt. Aber ihr Führer, ein ruhiger Sondierer namens Alvydas, hatte sie mit seinen kühlen Händen berührt und ihrem Geist Ruhe und Zuversicht eingeflößt. Alvydas war später ihr Lehrer geworden, der stärkste und fähigste Sondierer, den sie je kennengelernt hatte, und sie hatte ihn beinahe noch mehr geliebt als ihren Vater.
    Alvydas verließ das Archiv nie. Er arbeitete, aß und schlief auf und in der alten Esche. Ob sie ihn noch in seinen alten Räumen tief im Inneren des Baumes finden würde, in höchster Konzentration über einen Brocken Schwarzbernstein oder Kristallharz gebeugt, die schmalen Finger in sanfter Berührung mit dem warmen, atmenden Kristall?
    Die dritte Treppe war der sogenannte »Korridor« – eine unter ihrem Schritt vibrierende Konstruktion aus geflochtenen Grasseilen und zu belaubten Spiralen gesungenen Ästen der Esche. Von hier aus führten Hängebrücken in alle Richtungen wie Sonnenstrahlen. Schmetterlinge tanzten um ihren Kopf und leuchteten in der Sonne wie die Funken eines exquisiten Feuerwerks.
    Sie ließ die Erinnerungen ihre Schritte durch das verwirrende Labyrinth von Brücken, Seilen, Rampen und Treppen leiten. Hin und wieder begegnete sie Elben, die in allen Sonnenuntergangsschattierungen von Rot und Orange gewandet waren. Fast alle Bewahrer, die ihren Weg kreuzten, trugen den milden, dunklen Curryton eines Archivars, und die meisten von ihnen gehörten den unteren Rängen an, wie die rostroten Schärpen und Säume der Tuniken zeigten.
    Glautas hatte sie in ihren alten Rang wieder eingesetzt, und deshalb wies ihre weinrote Tunika mit den zart rosafarbenen Säumen und der orangefarbenen Schärpe sie als Sondiererin der Vierten Stufe aus. Die Archivare grüßten sie respektvoll, und wenn ein Weg oder Aufstieg zu schmal für beide war, traten sie beiseite und ließen Iviidis passieren.
    Tief im Geäst des westlichen Baumabschnittes schwang sie sich Astgabelung für Astgabelung wieder zurück zum Stamm. Eine elbengroße Öffnung lag tief im Schatten verborgen. Sie kletterte ins Innere des Stammes, und eine Zeit lang ging es im Dämmerlicht sachte abwärts. Als der letzte Lichtschimmer verschwunden war, wartete sie, bis ihre Augen sich umgestellt hatten und sie den matten Schein des leuchtenden Mooses erkennen konnte, das ihren Weg begleitete. Die kühle Luft roch nach Feuchtigkeit, Alter und in der Dunkelheit wachsenden Pflanzen.
    Sie zögerte kurz, als ihre Füße auf eine breitere Plattform stießen. Dann wandte sie sich nach links ins vollkommene Dunkel, zählte siebzehn Schritte ab und hob die Hand. Ihre Finger stießen gegen weichen Stoff.
    »Alvydas?«, rief sie leise.
    Hinter dem dichten Vorhang raschelte Stoff, und etwas kratzte über den Boden. Der Stoff bewegte sich unter ihren Fingern. Rötliches Licht fiel durch den sich öffnenden Spalt, und so schwach es auch war, es blendete sie kurz. Die Silhouette, die in dem Licht erschienen war, ragte einige Augenblicke lang düster und drohend vor ihr auf.
    Dann vernahm sie ein beinahe lautloses Ausatmen. Der Spalt im Vorhang öffnete sich weiter, und eine kühle Hand berührte ihren Arm, zog sie ins Innere der kleinen Kammer.
    »Glautas’ helle Tochter, welch schöne Überraschung«, sagte die vertraute, klare Stimme ihres alten Lehrers, der hinter ihr den Vorhang wieder sorgsam zuzog. Sie drehte sich um, Begrüßungsworte auf den Lippen, die erstarben, als sie Alvydas erblickte.
    Er lächelte, als er ihr Erschrecken sah. »Du hast mich lange nicht besucht«, sagte er ohne Vorwurf. Er ging, auf einen schlanken Stab aus Eschenholz gestützt, an ihr vorbei und ließ sich auf einen abgenutzten, bequemen Lehnstuhl sinken. Iviidis sah voller Mitleid, dass seine schmucklosen Kleider um den hageren Leib hingen, als gehörten sie einem viel größeren und breiteren Mann. Sie waren von so tiefroter Farbe, dass sie in dem matten Licht der Kammer schwarz wirkten, und Alvydas’ großer Kopf schien deshalb ohne Verbindung zu seinem Körper frei in der Luft zu schweben.
    Dünne, bleiche Finger deuteten auf einen zweiten Stuhl. Iviidis nahm zögernd Platz, ohne den Blick von Alvydas zu wenden. Der Elb war schon immer eine auffällige Erscheinung gewesen – vielleicht war auch das ein Grund dafür, dass er

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