Elbenzorn
und stapfte den anderen hinterher.
»Wir sind endlich unterwegs«, sagte Rutaaura. »Auf dieser Reise werden wir die Schweigsamen finden.«
Andronee Mondauge, Verborgenes Licht
A lle Völker, die uns auf unserem Weg begegnet sind, leben mit dem beständigen Wissen um das Ende ihres Lebens in ihrem Blut. Manche, wie die Menschen, leben so kurz wie Fliegen, und für manche, wie die Unterirdischen, liegt der Tod in so weiter Ferne, dass sie erst als Graubärte beginnen, darüber nachzudenken, was es bedeutet, einmal nicht mehr zu sein.
Aber sie alle erschaffen sich Götter und jenseitige Welten, damit ihr Ende weniger endgültig erscheint, doch im tiefsten Inneren fürchten sie, dass nach ihrem Tode in Wahrheit NICHTS sein wird.
Unser Volk ist glücklich und verflucht zugleich. Wer geht, geht freiwillig und in Frieden, weil er müde geworden ist und sein Maß des Lebens übervoll. Wer sich auf den Weg zu den Barmherzigen macht, lässt seine Erinnerungen zurück. So geht niemand zur Gänze, seine Essenz, sein Wissen und seine Erfahrungen, Freuden, Liebe, Glück und Unglück bleiben erhalten, auf dass seine Kinder und Kindeskinder sich ewig seiner erinnern können. Das ist das Wesen unseres Volkes und wehe uns, wenn wir es jemals vergessen.
Doch heute schließen die, die zurückbleiben, die Augen und wollen nicht sehen und verfluchen die Barmherzigen, obwohl sie doch nur geben, worum sie gebeten werden und nur das nehmen, was ihnen freiwillig gegeben wird.
12
»W arum hieltest du eine erneute Zusammenkunft für nötig?« Seine Stimme klang überlaut in seinen eigenen Ohren, und er bemühte sich, seinen Unmut über die Zeitverschwendung und die Gefahr der Entdeckung, in die er sich durch diese Treffen brachte, zu drosseln.
Wie bei jedem ihrer Treffen herrschte bei seiner Ankunft undurchdringliche Dunkelheit in dem unterirdischen Gewölbe. Die Luft war zwar kühl, roch aber schal und abgestanden, und aus einer Ecke drang schwacher Aasgeruch.
Er hatte eine Zeit lang im Finsteren gewartet, offenbar noch allein an ihrem Treffpunkt.
Dann hörte er, wie vor ihm etwas raschelte und leise atmete. Das Gewölbe musste einen zweiten Eingang haben, denn er war sicher, dass niemand hinter ihm durch die Türöffnung gekommen war.
Ein rötlicher Funke glomm vor seinen Augen auf, dann zischte etwas, und ein Flämmchen erhellte den tischartigen Stein, auf dem es nackt, ohne Docht, Wachs oder Öl, tanzte. Sein matter Schein ließ Glimmereinschlüsse in dem Stein aufblitzen. Schwarze Hände ruhten neben der Flamme, und das nachtdunkle Gesicht mit den kalten grünen Augen schwebte in einer Aureole von hellem Haar scheinbar körperlos darüber.
Er starrte in die Augen des Dunklen, der reglos seinen Blick erwiderte. »Also?«, fragte er scharf und ohne sich sein Unbehagen über die Gegenwart eines Schwarzen Elben anmerken zu lassen.
Der Dunkle öffnete den Mund, zeigte scharfe, perlweiße Zähne und eine rote Zunge, die über seine Lippen fuhr. »Wir warten«, sagte er so leise, dass das Tröpfeln des Wassers irgendwo hinter ihm seine Worte fast übertönte. »Wir haben getan, was du verlangt hast. Wann wirst du deinen Teil unserer Abmachung einlösen?«
»Ich bin noch nicht am Ziel«, erwiderte der andere. »Noch sind nicht alle im Rat auf meiner Seite – auch wenn mehr von ihnen auf mein Wort hören als je zuvor. Ihr müsst euch gedulden. Eure Zeit kommt, sobald meine Zeit gekommen ist – wenn ich erst den leeren Thron bestiegen habe, werdet ihr den verdienten Lohn für eure Unterstützung erhalten!«
»Wir haben uns schon zu lange geduldet«, sagte der Dunkle Elb. »Was können wir tun, um dich schneller an dein Ziel zu bringen?«
Er zog nachdenklich die Brauen zusammen und blickte in die kleine, Licht spendende Flamme auf dem Stein.
»Vielleicht hast du recht«, murmelte er nach einer Weile. »Es geht zu langsam voran. Ich denke darüber nach, mein Freund. Ich denke darüber nach …«
Als Iviidis an diesem Vormittag aus dem Haus trat, um zu Alvydas ins Archiv zu gehen, lief ihr die Gardistin über den Weg, die sie gewöhnlich an den Hof eskortierte und mit der sie inzwischen fast so etwas wie Freundschaft verband. Iviidis winkte ihr zu und rief einen Gruß.
Broneete blieb stehen und lächelte, aber als Iviidis sich ihr näherte, verschwand das Lächeln und machte einem geradezu erschreckten Blick Platz.
»Was ist, Broneete?«, fragte Iviidis erstaunt.
Die Gardistin starrte auf ihre Tunika. »Du bist eine
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