Eldorin – Das verborgene Land (German Edition)
von ihnen ihre Pflichten beim Tischdienst wahrnehmen mussten.
Sie war sich nicht sicher, ob er so begeistert
von ihrer Bitte war, denn er holte zögernd und wortlos seine Zeichnung hervor.
Die Aufgabenstellung war gewesen, ein bedeutendes Bauwerk ohne Vorlage nur aus
der Erinnerung heraus zu Papier zu bringen. (Eine Formulierung, die an sich
schon für Heiterkeitsausbrüche gesorgt hatte, und Qualle hatte überdies ganz
scheinheilig gefragt, was man denn machen solle, wenn man keine Erinnerung
habe.) Erstaunlicherweise hatte Larin eine glänzende Leistung vollbracht, indem
er einen märchenhaften Palast mit vielen Erkern und hohen Türmchen gezeichnet
hatte. Das Gebäude schien vollkommen mit dem Wald verwoben, in dessen grünem
Schutz es stand. Die Bäume gingen in das Mauerwerk über und wuchsen wieder aus
ihm heraus, so dass man nicht genau erkennen konnte, was nun Stein und was
Pflanze war. Es sah aus, als wäre die Natur selbst der Architekt dieses
wundersamen Gebildes gewesen.
Sehr vorsichtig nahm Maya das Blatt entgegen.
»Es ist unglaublich. Wie konntest du das denn
nur so malen?« Maya war völlig baff.
»Du meinst, nachdem ich mich nicht mehr daran
erinnern kann?« Larin klang ein bisschen trotzig und gereizt.
»N-nein, das wollte ich nicht sagen!« Maya sah
ihn entsetzt an.
Larin starrte vor sich hin.
»Scheiße gelaufen heute, was?«, ertönte eine
Stimme hinter ihnen. Max pfefferte schwungvoll seine Schulsachen in sein Fach
und gesellte sich zu ihnen. »Fiona hat’s mir eben erzählt. Sie ist gerade nach
unten gegangen.«
Larin schwieg, und Maya sah noch unglücklicher
aus. Ein paar von den kleineren Kindern aus Max’ Klasse waren hinzugekommen.
Sie reckten die Hälse, um einen Blick auf das Bild zu werfen, das wohl
irgendwie im Mittelpunkt des Geschehens stand und das Maya noch immer in der
Hand hielt.
»He, cool, Alter!«, schrie Andi, ein
sommersprossiger Junge mit auffallenden Segelohren und drängelte sich nach
vorne, um es besser sehen zu können.
»Hau ab«, empfahl ihm Max freundlich und
scheuchte ihn und die anderen hinaus.
»He, Max, kommst du auch?« Andi, der sich durch
nichts erschüttern ließ, steckte den Kopf abermals zur Tür hinein.
Max überlegte einen Moment und schaute von Maya
zu Larin und wieder zu Maya. »Ich komme!«, rief er.
Maya hielt Larin das Bild mit leicht zittrigen
Händen hin. Ihr Hirn fühlte sich leer an.
Larin nahm das Bild, drehte sich ohne einen Ton
zu sagen um und verließ das Zimmer.
Zum Mittagessen erschien er nicht. Auch im
Studierzimmer, wo sie ihre Hausaufgaben erledigten, war keine Spur von ihm.
Maya konnte sich heute überhaupt nicht
konzentrieren. Sie quälte sich durch die Mathematikhausaufgabe über direkte und
indirekte Proportionalität und kritzelte lustlos eine Textzusammenfassung in
ihr Deutschheft. Seufzend beschloss sie, die Lateinübersetzung von Fiona
abzuschreiben, die damit schon fast fertig war. Das würde sich morgen rächen,
denn die Hausaufgabe musste an der Tafel flüssig übersetzt werden können. Im
Gegenzug schnappte sich Fiona kurz darauf Mayas Mathehausaufgabenheft. Beide
waren fast zeitgleich fertig. Maya war so zappelig, dass sie unbedingt in den
Garten wollte. Sie hatte das Gefühl, keine Minute länger stillsitzen zu können.
Fiona dagegen wollte in Ruhe in einem Buch schmökern.
Maya schnappte sich ihre Jacke und rannte durch
den hinteren Ausgang nach draußen. Sie lief den Kiesweg entlang, der zur alten
Eiche führte. Dann fiel ihr ein, dass sie womöglich Max dort treffen würde. Sie
hatte keine Lust auf Gesellschaft. Also bog sie Richtung Wald ab, der eine
natürliche Grundstücksgrenze darstellte.
Was war nur los? Warum ging ihr die Sache mit
Larin so nahe? Sie kannte ihn kaum und fühlte dennoch eine eigenartige
Verbundenheit. Mit Fiona war es ihr ebenso ergangen, aber die war ein Mädchen,
und die konnte man als solches grundsätzlich besser verstehen. Mit Fiona konnte
man über Probleme reden . Maya schnaubte. Warum
gab Larin ihr immer das Gefühl, wie ein Idiot dazustehen? Sie war doch sonst
nicht auf den Mund gefallen. Sobald sie mit ihm redete, klang sie entweder so,
als hätte sie einen Sprachfehler, oder, noch schlimmer, ihr Gehirn machte
gerade Urlaub. Ausgerechnet dann, wenn sie es am nötigsten gebraucht hätte.
Beunruhigenderweise kriegte sie ihn nicht aus ihrem Kopf heraus; etwas
Ähnliches war ihr bisher nie passiert. Maya blieb am Waldrand stehen und atmete
tief ein. Die Luft war
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