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Eleanor Rigby

Eleanor Rigby

Titel: Eleanor Rigby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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Ich war in meinem Leben bei so vielen gestörten Pflegeeltern, dass ich vor der ersten Begegnung mit meiner richtigen Familie sichergehen wollte, dass du nicht genauso eine Psychopathin bist wie die anderen.«
    Das leuchtete mir ein. Außerdem brachte es mich zum Schweigen.
    »Ich weiß, wo du arbeitest und wo der Rest der Familie lebt. Solche Dinge. Die Basics.«
    Ich sagte nichts; er hatte alles Recht der Welt, misstrauisch zu sein. Constable Chung hustete. Dr. Tyson war immer noch da; überarbeitet oder nicht, das hier wollte sie sich nicht entgehen lassen.
    Jeremy sagte: »Liz - Mom. Du siehst dich gern als Fels in der Brandung. Du glaubst, du bist so hart, dass niemand dir wehtun kann, aber das stimmt nicht.« Er stockte. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass in seinem Kopf gerade etwas geschmolzen war und so etwas wie einen Fleck hinterlassen hatte. »Ich glaube, ich blende mich jetzt aus«, sagte er und schloss die Augen.
    Dr. Tyson überprüfte seinen Puls, schaute mich und den Polizisten an und erklärte, Jeremy sollte wohl besser eine Weile schlafen.
    »Kann ich hierbleiben?«, fragte ich. »Natürlich.«
    Jeremy schlief sofort ein, und was blieb mir anderes übrig, als stumm dazusitzen und die kalte Hand meines Sohnes zu halten? Auf einem Stuhl entdeckte ich einen Haufen albern aussehender Netzstrümpfe und schwarzer Reizwäsche. Als Constable Chung meinen Blick bemerkte, sagte er: »Ahm, darin haben wir ihn gefunden, und er war dick geschminkt. Die Schwester hat ihn sauber gemacht.«
    Ich rief mir die Leiche in Erinnerung, die ich mit zwölf jahren gesehen hatte, die Blaubeeren, den anormal bekleideten Körper, den Teergestank der Bahnbrücke.
    Die Ärztin schaute mir ins Gesicht und beeilte sich dann zu sagen: »Ich glaube, das war ein Kostüm für die Rocky Horror Show. Die läuft immer in der Mitternachtsvorstellung im Ridge Theatre. Damals, als die anfingen, bin ich da auch immer hingegangen.«
    »Wird er wieder gesund?«, fragte ich sie.
    »Diesmal ja. Das nächste Mal - vielleicht. Und das Mal danach? Wer weiß?«
    Zwingende Logik. Jeremys Hand wurde langsam wärmer. Ich schaute Chung an, und er zuckte mit den Schultern. »Sie sind Ihrem eigenen Sohn noch nie begegnet?«
    '»Nein.«
    »Sie machen Witze.«
    »Nein. Ich meine, ich wusste, dass es ihn ... Jeremy gibt, aber nicht ...« Aber was nicht? Aber nicht, dass er dieser schöne Mann hier vor mir ist.
    »Wie alt ist er?«
    »Zwanzig.«
    »Zwanzig?«
    Das Zischen des Sauerstoffs in dem Schlauch unter der Nase meines Sohnes versetzte mich zurück nach Rom. Zurück in die Nacht vor zwanzig Jahren, als ich, die dicke, unscheinbare Kanadierin, im Regen auf einem Dach in der Nähe des Kolosseums stand. Ich war sechzehn, und es war die Zeit des sauren Regens ein Thema, das heute offenbar längst vergessen ist. Vom Himmel über Europa regnete es damals Schwefelsäure. Ich erinnerte mich, wie ich unter einem taubenfedergrauen Himmel auf das Kolosseum und die Gebäude darum herum bückte. Abends an einem Wochentag, jeglicher Verkehrslärm war verstummt. Der saure Regen fiel auf die Marmor- und Travertin-Monumente der Stadt, und ich glaubte sie unter der Säure zischen und knistern zu hören. In einem Jahr zersetzten sie sich mehr als in tausend zuvor. Die Vergangenheit schmolz vor meinen Augen dahin. Das war das Geräusch des Sauerstoffgerätes.
    Ich rückte näher an Jeremy heran und   küsste ihn auf die Wange.

~12~
    Dass ich überhaupt verreisen wollte, und dann auch noch nach Rom, war ein Schock für meine Familie gewesen. Für die meisten Menschen ist eine Latein-Exkursion der Inbegriff von Langeweile. Doch das trifft es nicht ganz. Der Kurs bestand aus einer ziemlich kruden Mischung von verkniffenen Sprachwissenschaftlern, aufmüpfigen Söhnen von Bildungsbürgern und besonnenen Mädchen, die zielstrebig auf eine zukünftige Karriere als Ärztin hinarbeiteten. Es war der einzige Kurs, der mir je Spaß gemacht hat.
    Leslie, die, vor kurzem die Schule abgeschlossen hatte und nach Lust und Laune zu Hause ein und aus ging, war die Reisende in unserer Familie - in der neunten Klasse eine Zehntagetour durch Südengland und im Sommer nach dem Abitur drei Wochen als Zimmermädchen in einer Pension in Nova Scotia. Beide Reisen waren von Sex und Skandalen geprägt.
    »Rom?«, sagte Vater. »Das ist die Welt von gestern. Fahr ins Morgen. Houston — San Diego — Atlanta.« Vater interessierte sich nur für das Neue. Ihm bedeutete eine Kirche aus dem

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