Eleanor Rigby
er uns ausschimpfen würde, weil wir in Vancouver shoppen gingen. Er hatte keine Chance.
Die Jungs langweilten sich und litten wie wir unter dem Jetlag. Der Ausflug zum Vatikan hatte etwas Gezwungenes, das reinste Pflichtprogramm. Er brachte uns dazu, uns zu fragen, ob es in Rom so etwas wie das Hugh-Hefner-Anwesen gab, das man absichtlich vor uns geheim hielt. Wir standen zu Salzsäulen erstarrt da und warteten und warteten und warteten darauf, das dieser kleine weiße Punkt von einem Mann auf einen Balkon heraustrat und etwas mit seinen Händen machte, während seine elektrisch verstärkte Stimme Tauben aufschreckte und uns daran erinnerte, dass wir Hunger hatten und der Caffe latte und das Croissant vom Morgen schon längst verdaut waren. Die ganze Inszenierung und die Atmosphäre sorgten dafür, dass wir uns fühlten, als seien wir in einer untergehenden Welt gefangen, die wir am liebsten zertrümmern wollten, um etwas Besseres daraus wieder aufzubauen.
Als ich wieder im Bus saß, bekam ich erneut Heimweh. Es war Sonntag, und das Restaurant, in dem wir essen sollten, hatte zu, vielleicht aufgrund des Streiks oder vielleicht auch, weil bei der Organisation etwas schiefgelaufen war. Außer dem Vatikan schien alles in der Stadt geschlossen zu sein. Wir waren zwölf Jugendliche mit einem Mordshunger, und das Einzige, was wir finden konnten, war ein Zeitungskiosk, an dem Kaugummi verkauft wurde.
Wir fuhren am Kolosseum vorbei, aber das stand erst ein paar Tage später auf dem Plan. Die meiste Zeit gurkten wir durch Tausende von schmalen Gassen, die für Triumphwagen und Trauerzüge gedacht waren. Alle Geschäfte in diesen Straßen hatten die Rollläden heruntergelassen. Ich begann mich zu fragen, ob es in Italien überhaupt eine Wirtschaft gab. An jenem Tag erlebten wir einen denkwürdigen Sonnenuntergang: Korallenrote Strahlen flimmerten über Schwärmen von dunklen Vögeln, die von einem Baum zum anderen flogen. Diese Sonne schien auch,über einem Ort, an dem man tatsächlich etwas zu essen kaufen konnte, an der Schnellstraße am Stadtrand, ein paar Meilen von der Jugendherberge entfernt. Dort gab es Hamburger mit Dijonsenf obendrauf, "den wir mit schwarzen Plastikmessern abkratzten. Ich aß einen halben und nahm dazu noch ein paar von Mr. Burdens Anti-Heimweh-Pillen. Mittlerweile hatte ich beschlossen, dass ich die verbleibenden neun Tage einfach in Vollnarkose verbringen wollte.
Und so weinte ich mich, als ich den zweiten Tag hinter mir hatte, wieder einmal in den Schlaf. Bu-hu-hu. Warum ich solches Heimweh hatte? Keine Ahnung. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, finde ich, ein anderes Land zu bereisen ist eigentlich genau das Gleiche, wie in ein fremdes Haus einzudringen, um seine Aura auszukosten. Eigentlich hätte ich in Italien ganz in meinem Element sein müssen.
Ob ich an jenem zweiten Tag viele nackte Statuen gesehen habe? Allerdings. Überall. Sie waren schwer zu übersehen. Noch schwerer war es, nicht dabei gesehen zu werden, wie man sie ansah. Die Mädchen gackerten angesichts steinerner Genitalien los; die Jungs verstummten beim Anblick von Brüsten. Ich persönlich finde nichts Erotisches an weiblichen Statuen; wir Frauen machen uns in Marmor nicht besonders gut. Nur Gemälde lassen uns aufblühen, während es bei männlichen Wesen in Marmor nur ein winziger Schritt von der Kunst zur Pornographie ist. Jedenfalls hatte ich bald genug von den Nackten, das Heimweh machte, alles andere zunichte. Anders als für. die Einsamkeit gibt es dafür ein einfaches Gegenmittel: nach Hause fahren. Wenn sich Einsamkeit doch auch so leicht beheben ließe! Nur mit anderen Menschen zusammen zu sein hilft mir nicht - sich in Gesellschaft einsam zu fühlen ist die erbärmlichste Spielart der Einsamkeit, die es gibt. Andererseits besteht dann wenigstens die Möglichkeit, so unwahrscheinlich es auch sein mag, dass ich dem einen Menschen begegne, dessen Gegenwart mein fieberndes, einsames Gehirn zur Ruhe bringt. Wenn ich allein zu Hause herumsitze, stehen die Chancen gleich null.
Ich mache gerade das Gleiche wie jeder andere einsame Mensch - ich lege meine Rangordnung der verschiedenen Arten von Einsamkeit fest. Was ist einsamer ... als Single einsam zu sein oder innerhalb einer kaputten Beziehung? Ist es nicht total erbärmlich, als einsamer Single jemanden zu beneiden, der in einer kaputten Beziehung einsam ist? Wobei ich noch mal daran erinnern möchte, dass all das für mich reine Theorie ist. Okay, hier ist noch
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