Eleanor Rigby
Familien waren religiös. Immer wenn es Probleme gab und ich dem Sozialdienst Rede und Antwort stehen musste, wurde Religion zum Thema. Sie glaubten immer, eine andere religöse Familie irgendwo in der Walachei würde mich wieder hinbekommen.«
»Dabei muss man dich doch gar nicht igendwie hinbekommen«, sagte ich.
»Nein. Ich hätte den Sozialarbeitern erzählen können, dass ich in der Bärensaison sechzehn Stunden lang an die Wäschestange gekettet worden bin. Aber dann hätte meine Pflegemutter bloß eine Augenbraue hochgezogen, den Blick gen Himmel gewandt und gesagt: Was für eine blühende Phantasie Kinder doch haben^«
Mutter sagte: »Oh. Nun, ich wollte nur wissen, wo du aufgewachsen bist.«
»Jetzt weißt du es«, sagte ich. »Wann habt ihr beide euch getroffen? Und wie?« »Ich habe Kontakt zu Liz aufgenommen.« »Uns hat man immer erzählt, es sei unmöglich, dich zu finden.«
»Ist es auch, es sei denn ...«
Ich unterbrach. »Jeremy hat ein Hintertürchen im System gefunden.«
Mutter sagte: »Ich habe denen jahrelang Tausende von Dollar in den Rachen geworfen und nie etwas herausgefunden.« »Was hast du?«
»Ich bete heimlich für ihn. Seit dem Tag, an dem wir die Papiere unterschrieben haben, kann ich keine Nacht mehr ruhig schlafen.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Wir haben nie über ihn — dich — Jeremy gesprochen. Niemals.«
Jeremy sagte: »Keine Widerrede — ihr beide braucht einen Kaffee.«
Mutter sprach plötzlich so, als rede sie im Schlaf. »Ich habe auch tagsüber an dich gedacht. Meistens, wenn ich das Essen zubereite und mich frage, wie viele Portionen ich machen soll. Wenn ich an der Spüle- Kartoffeln schäle oder während ich eine Bluse bügle. Frag mich nicht, wieso. Ich tue es im Stehen, bei irgendwelchen monotonen Tätigkeiten. Leslie und William haben zwar auch Kinder, aber aus irgendeinem Grund bist du es, der mir fehlt. Du warst der Erste. Um Leslies Kinder mache ich mir zwar ebenfalls Sorgen, aber wenn ich an sie denke, muss ich nicht urplötzlich am Straßenrand halten, weil ich das Gefühl habe, ich hätte einen Tritt in den Brustkorb bekommen.«
Ich war langsam mit den Nerven am Ende. »Ich glaube, noch mehr Gefühlsausbrüche kann ich momentan nicht ertragen.«
Mutter tat so, als hätte sie nichts gehört. »Leslie sagt, du seist krank. Du sollst Liz aus dem Krankenhaus angerufen haben.« »In gewissem Sinne.«
»Du siehst aber ganz gesund aus. Was hast du denn?«
Ich sagte: »Multiple Sklerose.«
»Oh.«
Ich kann euch sagen, diese beiden Wörter haben es in sich, aber niemand weiß genau, was eigentlich. Vielleicht Knochen, die dunkel werden und zersplittern, blaue Flecken, die ohne Grund kommen und gehen, oder Haut, die sich anfühlt wie nach einem Bienenstich und dann wegfault, selbst wenn man bloß im Bett liegt. Der gefürchtete Rollstuhl oder die Isolierstation und auf jeden Fall Dutzende Pillenfläschchen aus braunem Plastik. Ich weiß es nicht. Selbst heute, wo ich über diese teuflische Krankheit Bescheid weiß, begreife ich sie immer noch nicht.
Als Jeremy sah, wie wir beide dort standen und nach Worten rangen, erbarmte er sich und setzte zu einer kurzen Erläuterung der Krankheit an. Mutter biss sich auf die Unterlippe; hinterher fragte sie Jeremy, wie es ihm momentan ginge.
»Ganz gut. Ich hab ein Nickerchen gemacht.«
»Er bleibt heute Nacht hier.«
Mutter sagte: »Hier? Ich kann mir kaum vorstellen, dass er dazu Lust hat.« »Danke, Mutter.«
Jeremy sagte: »Ich schlafe auf der Couch.«
»Nein, das tust du nicht. Du kommst mit zu mir. Ich habe zwei sehr schöne Gästezimmer, eins sogar mit eigenem Bad. Und außerdem habe ich gerade Nanaimo-Bars gebacken.«
»Nanaimo-Bars? Sie machen es mir wirklich schwer, Mrs. Dunn, aber ich möchte doch lieber hier bei Liz bleiben.«
Die Sonne war untergegangen, und der Himmel leuchtete in einem strahlenden Tiefblau. Ich sagte: »Komm, Mutter, lassen wir Jeremy einfach schlafen. Jeremy ... ?«
Jeremy hatte leicht zu zittern begonnen, als ob sein ganzer Körper stotterte. Wir halfen ihm aus seiner Hose und ließen seine Unterhose und sein T-Shirt an. Bald war er eingeschlafen.
Er war ein hübscher Junge, und Mutter und ich standen da und betrachteten ihn wie ein Bild. Ich wusste nicht recht, ob ich ein künstlerisches Urheberrecht an dieser Schöpfung beanspruchen konnte. Er war das wunderbare Weihnachtsgeschenk und ich nur die Schachtel, das Einwickelpapier und die Briefmarke. Einmal
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