Eleanor Rigby
heutzutage wie Milben in ihre Kathedralen schwärmen?
Als wir im Bistro waren, änderte sich Rainers Stimmung. Er sagte: »Vielleicht wäre es besser, wenn Wien im Krieg bombardiert worden wäre. Alles hier ist so ungeheuer alt. Manchmal beneide ich die Deutschen - die konnten wenigstens etwas Neues schaffen.« Er hielt inne. »Tut mir leid. So etwas Furchtbares sagt man nicht. Aber ich fände es gut, wenn ein UFO hier landen und die halbe Stadt mitnehmen würde. Vielleicht machen die Chinesen das ja irgendwann mal.« Er ließ seinen Blick über die Speisekarte schweifen, die er in seinem Berufsleben schon tausendmal gelesen haben musste. »Zufälligerweise waren wir die Ersten, die groß und bürgerlich waren. All diese Menschen, die nicht genug Probleme in ihrem Leben haben und neue Wege erfinden, Probleme zu schaffen.« Er schaute zum Fenster hinaus. »Lassen Sie uns essen.«
Wir bestellten — Zwiebelsuppe mit Gruyere, Steak mit Pommes frites und Salat -, und schon bald kam das Essen.
»Und?«, fragte Rainer. »Was machen wir nun mit Herrn Kertesz?«
»Nun, ich glaube, ich würde ihn gerne treffen.« »Ich habe Ihnen noch nicht viel über ihn erzählt.« »Trotzdem.«
Ohne ein Wort aß er weiter, doch ich hielt inne, starrte ihn an und gewann das Spielchen. Er sagte: »Ich vermute, ich kann Sie nicht daran hindern.«
»Nein, das können Sie nicht. Erzählen Sie mir etwas von ihm.«
»Nun gut.«
»Sitzt er im Gefängnis?« »Nein.«
»Ist er kriminell?«
»Wenn man's genau nimmt, nein. Ein paar kleine Diebstähle als Jugendlicher, aber seit seinem zwanzigsten Lebensjahr hat er nichts mehr angestellt. Wenn ein Mann mit fünfundzwanzig stiehlt, stiehlt er auch noch mit fünfzig. Also ist er nicht kriminell. Nicht auf diese Art.«
»Wie denn dann?«
Rainer schenkte uns beiden Wasser ein. »Er ist sozusagen ein öffentliches Ärgernis. Er geht den Leuten auf die Nerven, aber im juristischen Sinne lässt er sich nichts zuschulden kommen.«
»Was tut er denn?«
»Er führt auf offener Straße Selbstgespräche.«
»Das ist mir auch schon passiert. Am Telefon sagten Sie etwas von Übergriffen auf Frauen. Das scheint mir ein ziemlich ernstes Vergehen zu sein. Was sind das für Übergriffe?«
»Nichts Sexuelles.«
Das hatte ich nicht erwartet. »Wie bitte? Okay - was dann?« Die Antwort fiel ihm sichtlich schwer, aber schließlich presste Rainer widerstrebend hervor: »Religiöse Übergriffe.« »Was?«
»Es hat nichts mit einschlägiger Kleidung oder religiösem Eifer zu tun. Herr Kertesz sucht sich Frauen aus — wobei wir keine Ahnung haben, wie er das tut -, von denen er glaubt, dass sie eine ... religiöse Erziehung brauchen.«
»Ist das irgendwas speziell Österreichisch-Katholisches?«
»Nein. Seine Eltern sind Protestanten, aber er selbst scheint konfessionslos zu sein.«
»Spielt er Charles Manson?«
»Nein.«
»Ist er arm und hat es aufs Geld abgesehen?« »Ganz im Gegenteil. Herrn Kertesz' Eltern sorgen sehr gut für ihn. Außerdem ist er ein erfolgreicher Zahnarzt.«
»Was macht er mit den Frauen, die er ... heimsucht?«
»Er folgt ihnen auf Schritt und Tritt und stellt ihnen Fragen.« »Zum Beispiel?«
Er verzog das Gesicht, was heißen sollte, dass er Klaus Kertesz' Anmachsprüche auswendig konnte. »Zum Beispiel: Ihr Leben ist zu einfach. Sie haben sich dazu verleiten lassen, Ihre Seele nicht infrage zu stellen. Ist Ihnen das klar?«
»Und ...?«
»Wenn Sie sich nicht bald ändern, wird Ihre Seele für immer zu einer bestimmten Form erstarren und nie wieder schmelzen. Das müssen Sie wissen. Haben Sie mal darüber nachgedacht?«
»Klingt ziemlich harmlos.«
»Liz — stellen Sie sich mal vor, Sie sind eine ganz normale Frau, die aus dem Büro kommt, zum Markt und dann nach Hause gehen will, und dann kommt da dieser ...« Er verkniff sich das Wort »Idiot«, aber ich verstand auch so, dass Klaus Kertesz Rainer das Leben schwer machte.
»Dann ist er also ein Stalker.«
»Nein. Ein Stalker stellt anderen Leuten nach. Herr Kertesz führt ein ganz durchschnittliches Leben und schreitet nur zur Tat, wenn er auf eine der Frauen von seiner Liste trifft.«
»Gibt es einen bestimmten Frauentyp, auf den er es abgesehen hat?«
»Meistens sind es Frauen in seinem Alter, und weil er groß und gutaussehend ist, stört es sie anfangs auch gar nicht.« »Hat er jemals Männer belästigt?«
»Nein. Wir haben ihn mehrfach verhört. Er sagt, Männer seien ohnehin alle verdammt. Alle Versuche,
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